Musikalischer Avantgardismus kann äußerst borniert sein. Dann nämlich, wenn er des Rätsels Lösung gefunden zu haben glaubt und an einer einzigen Form festhält. So berichten viele Komponisten davon, dass die Zeit der seriellen Musik auch Beschränkungen mit sich brachte. So elektrisierend die neue Methode war, sie hatte den Nachteil, dass alle, die ihr nicht bedingungslos folgten, skeptisch beäugt wurden. Hatten sie es noch nicht richtig begriffen? Klebten sie immer noch an der Tradition, an Dur und Moll?
Undogmatische Avantgarde: Bruno Maderna und Luciano Berio
Bruno Maderna (1920–1973) und Luciano Berio (1925–2003) gehörten zu jenen Neuerern, die immer offen blieben. Obwohl sie durch die Schulen der Zeit hindurchgingen, ließen sie sich nicht von ihnen gängeln. Bruno Maderna, Lehrer und Freund von Luigi Nono, führte Zufallsmomente in die serielle Musik ein, um sich von ihrer Enge zu befreien, und Luciano Berio emanzipierte sich spätestens mit seinen “Folksongs”, die weit über den Klassiksektor hinaus Bekanntheit erlangten, von den Dogmen der einzig wahren Moderne.
Mit der Gründung des Mailänder “Studio di Fonologia” legten Bruno Maderna und Luciano Berio 1955 den Grundstein für die Entwicklung der elektroakustischen Musik im 20. Jahrhundert. Die klanglichen Möglichkeiten der Elektronik waren den beiden Freunden und musikalischen Weggefährten ein ästhetisches Elixier. Was sie darüber hinaus verband, war ein nie abreißendes Interesse an der klassischen Überlieferung und ihren Ressourcen für die Weiterformung der zeitgenössischen Musik.
Verwandlung der Tradition: Barocke Klangnuancen
Berio arbeitete zum Beispiel mit dem Rohstoff, den Schubert mit seiner kurz vor seinem Tod begonnenen Sinfonie in D-Dur der Nachwelt hinterlassen hatte. Er nannte es nicht eine Vollendung von Schuberts Sinfonie, sondern einen “Liebesbrief an Schubert”. Das ist ein signifikanter Unterschied, wird hiermit doch die persönliche, moderne Perspektive deutlich gemacht. Wir können nicht aus unserer Haut. Wir formen von uns aus das Material weiter, das uns vermacht wurde.
Ähnlich unbefangen geht Bruno Maderna mit barockem und Renaissancerepertoire um. Er transkribiert es nicht nach Kriterien der historischen Aufführungspraxis, sondern mit modernen Instrumenten und Stimmungsakzenten. Wie reizvoll dies ist, zeigt das gerade erschienene ECM-Album mit Madernas Transkriptionen von Werken Gabrielis, Frescobaldis, Legrenzis, Viadanas und Wassenaers. Ein epischer Kosmos fließender Energien tut sich auf. Frescobaldis “Tre Pezzi” etwa klingen hochmodern. Maderna gibt ihnen Raum, Erzählkraft.
Ekstasen an der Gitarre: Pablo Márquez
Das behutsam musizierende Orchestra della Svizzera italiana unter Dennis Russell Davies ist gut vorbereitet auf Madernas Strategie, das alte Repertoire mit modernen Mitteln aufzuschließen. Der Klang ist ebenso sanft wie transparent. Dass das Orchester auch den flirrenden Furor der Moderne beherrscht, demonstriert Berios “Chemins V” mit Pablo Márquez an der Solo-Gitarre.
Was sich hier entfaltet, ist eine Art harmonisches Rauschen, ein Paradox aus Stille und ekstatischen Bewegungen. Pablo Márquez, einer der versiertesten Gitarristen der Gegenwart, lotet die Klangressourcen seines Instruments intensiv aus. Sein Spiel ist so virtuos wie einfühlsam, so griffig wie abstrakt. Er begibt sich ganz hinein in die wild wachsenden Klangphantasien Berios, die auf eine seltsam magische Art in sich selbst ruhen.