“Jung und zukunftsreich”, so notierte der berühmte Musikkritiker Joachim Kaiser 1963 in sein “Kleines Theatertagebuch”, nachdem er István Kertész bei den Salzburger Festspielen Mozarts “Zauberflöte” hatte dirigieren hören. Kaiser war nicht gänzlich überzeugt von der Aufführung. Er vermisste Tiefgang. Die Frische Mozarts dürfe nicht auf Kosten der Beseeltheit gehen, so sein Resümee. Der beschwingte Stil von István Kertész besaß also aus Sicht des Kritikers noch Reifungspotential. Wie hätte es auch anders sein können bei einem Mann, der damals erst 33 Jahre alt war.
10 Jahre später stirbt der charismatische Dirigent, eine der verheißungsvollsten Begabungen der Nachkriegszeit, einen tragischen Tod. István Kertész ertrinkt nahe der israelischen Stadt Kfar Saba im Mittelmeer. Die Umstände seines Todes im Jahre 1973 können nie restlos geklärt werden. Wahrscheinlich wurde er von einer Strömung ergriffen.
Frühvollendetes Genie
Seit seinem frühen Tod ist immer wieder die Frage nach dem musikalischen Rang des Dirigenten aufgekeimt. War er ein ganz Großer? Oder hätte er noch Zeit zur Entfaltung seiner erstaunlichen Anlagen gebraucht? Als unstrittig darf heute gelten, dass er eine beeindruckende Diskographie hinterlassen hat, deren musikalische Intensitäten keine Wünsche offen lassen. Zu seinen Kultaufnahmen zählt seit jeher seine bewegende Interpretation sämtlicher Sinfonien von Antonín Dvořák mit dem London Symphony Orchestra. Die audiophile Neuauflage des Zyklus bei seinem Stammlabel Decca hat die interpretatorische und klangliche Klasse der Aufnahme noch einmal brillant herausstellt. Insgesamt gut dokumentiert ist die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem London Symphony Orchestra, dessen Chefdirigent István Kertész im Jahre 1965 wurde, in der noblen Ausgabe “István Kertész – The London Years”. Jetzt erscheint eine limitierte Edition, die erstmals die farbenprächtigen Aufnahmen des Dirigenten mit den Wiener Philharmonikern zusammenführt und mit audiophilen Extras versieht.
Die neue Ausgabe ist eine wahre Schatztruhe überwältigender Orchestermusik. István Kertész kam bei den Wiener Philharmonikern ganz zu sich selbst. Der volltönende, sinnliche Klang des Traditionsorchesters passte kongenial zu seiner ebenso gefühlvollen wie enthusiastischen Herangehensweise. Wer noch Zweifel hatte, ob István Kertész ein ganz Großer war, der wird mit dieser Ausgabe endgültig eines Besseren belehrt.
István Kertész in Wien
“István Kertész in Vienna” versammelt auf 20 CDs und einer Blu-ray Audio Disc sämtliche Decca-Aufnahmen, die der ungarische Dirigent mit den Wiener Philharmonikern verwirklicht hat, darunter die vollständigen Zyklen der Sinfonien von Franz Schubert und Johannes Brahms sowie eine funkensprühende Aufnahme von Dvořáks berühmter Sinfonie Nr. 9 in e-Moll (“Aus der Neuen Welt”). Bei der Interpretation romantischer Sinfonien macht sich die poetische Empfindsamkeit des Dirigenten bezahlt, der emotionale Orchestermusik zu leben wusste. In den Sinfonien und Opernarien von Mozart sowie in der Gesamtaufnahme von Donizettis komischer Oper “Don Pasquale” überzeugt der melodische Schwung, die kantable Leichtigkeit des Dirigenten. Dabei erschöpft sich die musikalische Größe von István Kertész keineswegs in seiner stets fühlbaren Tanzfreude, seinem mitreißenden Stil.
Schillerndes Bildmaterial
Wie Andrew Stewart in seinem lesenswerten Booklet-Essay anmerkt, lohnt es sich, das Augenmerk auf die “spektakulären dramatischen Kontraste” von István Kertész und die “unzähligen Feinheiten seiner Phrasierung und Artikulation” zu lenken. Dafür bieten sich jetzt ausgezeichnete Möglichkeiten. Dvořáks Neunte, die Schubert-Sinfonien und Donizettis “Don Pasquale” sind für die gerade erschienene Edition eigens neu gemastert worden. Der erfahrene Toningenieur Paschal Byrne hat dies unter Rückgriff auf die analogen Originalquellen der Aufnahmen bewerkstelligt. Der gefeierte Schubert-Zyklus liegt jetzt zusammen mit drei Ouvertüren des österreichischen Komponisten in einer Blu-ray Audio Disc in Studioqualität mit einer 24 Bit / 96 kHz-Auflösung vor. Das verleiht der kristallinen Schönheit des Decca-Sounds, der natürlich auch auf den CDs zu erleben ist, einen zusätzlichen Glanz.
Ein weiterer unschätzbarer Vorzug der noblen Edition, deren CD-Hüllen im Coverdesign der Ersterscheinungen gehalten sind, ist das schillernde Bildmaterial des Booklets. Der melancholische Ausdruck des hochsensiblen Dirigenten, der als ungarischer Jude knapp der Verfolgung durch das Eichmann-Kommando entkam, geht zu Herzen. Probenfotos von Größen wie der nachdenklich dreinschauenden Mezzosopranistin Teresa Berganza oder der hochkonzentriert mit einem Kugelschreiber in der Hand posierenden Starsopranistin Lucia Popp bleiben als starke Eindrücke haften.