Manch einer fällt aus dem Rahmen. An Friedrich Gulda (1930–2000) beispielsweise konnten sich die Gemüter erhitzen. Für die einen war er ein Abtrünniger, heiß geliebt als Interpret des Klavierwerkes von Bach, Mozart und Beethoven, aber auch schwer gefürchtet wegen seiner gedanklichen Radikalität, die ihn als Komponisten und Jazzfan mit der irritierenden Welt der Improvisation zusammenführte. Für die anderen hingegen war er der Grenzgänger schlechthin, einer, der die Schranken der Genres öffnete, um die kulturell bedingten Demarkationslinien der Darstellung und Interpretation möglichst umfassend und in jeder Richtung zu überschreiten. Für alle aber, die ihn jemals haben spielen hören, steht fest: Friedrich Gulda war einer der bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts.
Der Junge hatte hatte früh angefangen. Geboren am 16. Mai 1930 in Wien, war er gerade sieben Jahre war er alt, als er mit dem Privatunterricht bei Felix Pazofsky begann. Als dieser ihm kaum noch etwas beizubringen hatte, setzte Gulda seine Ausbildung bis 1947 an der Wiener Musikakademie bei Joseph Marx (Komposition) und Bruno Seidlhofer (Klavier) fort. Von da an betrachtete er seine künstlerische Kompetenz als weitgehend ausgereift und machte sich auf, die internationalen Konzertsäle für sich zu gewinnen. Erste wichtige Erfolge hatte er bereits vorzuweisen, wie etwa 1944 der erste Preis beim Genfer Wettbewerb 1946. Er machte sich bald darauf als Beethoven-Spezialist einen Namen, spielte dessen 32 Sonaten mehrfach als Konzertzyklus und wurde schließlich 1950 als Jahrhunderttalent in der New Yorker Carnegie Hall gefeiert.
Seine umfassende Interpretationskunst brachte nicht selten die Rezensenten in Beschreibungsnöte, war er doch in seinem musikalischen Verständnis ähnlich radikal und unbeugsam wie sein Genie-Kollege Glenn Gould. Nicht umsonst stellt der Musikkritiker Joachim Kaiser in seiner Klavier-Anthologie “Große Pianisten in unserer Zeit” die beiden Koryphäen daher nebeneinander und beschreibt den Stil des Wiener Meister mit Blick auf dessen Beethoven-Interpretationen als “ausgesprochen maskulin , kraftvoll, bestimmt, entschieden. Große Zusammenhänge geraten ihm wie aus einem Guss, werden überschaubar, einfach. Auch im entfesselten Tempo erlaubt er sich nie eine Undeutlichkeit. Nie wühlt die linke Hand nur so herum, müht die rechte sich ziellos ab. Sein manuelles Vermögen ist außerordentlich. Er ‘kann’ technisch offensichtlich mehr als Schnabel oder Kempf, als Fischer oder selbst Richter. Und er übersieht genau, was er kann”.
Gulda forderte sich gerne heraus. Schon als 23jähriger erregte er in den Klassikwelt Aufsehen, als er die Beethoven-Sonaten in chronologischer Reihenfolge aufführte, ein in den Fünfzigern unübliches und überraschendes Projekt. Im Jahr 1968 ging er für die Decca ins Studio und hielt seine Erfahrungen mit den Werken auf Bändern fest. Es wurde ein Klassiker der Interpretationskultur, an dem sich kein Pianist von Rang unkommentiert vorbei bewegen kann. Vor allem aber begann er in ebenjenen Jahren, sich nicht nur intellektuell, sondern auch spielerisch für den noch jungen Jazz zu erwärmen. Dabei konnte er richtig energisch werden, wenn es um die Vermittlung seiner musikalischen Vorlieben galt. Ihm langte es nicht, als führender Mozart-, Bach- oder Beethoveninterpret seiner Generation gefeiert zu werden, und so versuchte er seit Mitte der Fünfzigern nachdrücklich, sich auch in der Jazzszene zu etablieren. Er jammte in den Clubs von New York und spielte auch mit Größen wie etwa Dizzy Gillespie oder Phil Woods, hatte jedoch durch seine europäisch-klassische Herkunft ein divergierendes Formverständnis der Musik, das vom Chorus-Spielen der amerikanischen Schule sich deutlich unterschied.
Gulda fühlte sich wiederum nicht ausgelastet, lernte selbst Baritonsaxofon, Flöte und einige andere Instrumente spielen, komponierte ausführlich in verschiedenen Stilistiken und organisierte große Konzerte mit wechselndem Repertoire und Wettbewerbe wie den berühmt gewordenen Wettbewerb 1966, bei dem immerhin 116 Jazz-Pianisten aus 24 Ländern antraten. Zwei Jahre später rief er eine Improvisationsschule im Kärnterischen Ossiach ins Leben, anno 1969 verärgerte er die Honorationer des klassischen Wiener Establishments, als er anlässlich einer Rede zur Verleihung des Beethovenrings, den er wenige Tage später wieder zurückgab, das seine Meinung nach nicht mehr zeitgemäße Ausbildungswesen anprangerte. So war Gulda in den Siebzigern sowohl ein umworbener Klassikinterpret als auch ein umtriebiger Szeneguru, dem zugestanden wurde, außergewöhnliche Konzerte wie “Tales Of World Music” mit traditionellen italienischen Gesängen der “Nuova Compagnia di Canto Populare”, arabischen Impressionen des irakischen Oud-Meisters Mounir Bashir, jazzigen Einlagen des Dizzy Gillespie Quartets, freien Improvisationen des Bassisten Günther Rabl und der Schlagzeugerin Ursula Anders und klassischen Klavier- und Cembalopassagen von Bach und Mozart in Salzburg 1979 zu konzipieren und umzusetzen. “Was ist anstrebe, ist der Versuch, verschiedene Musikrichtungen, die normalerweise in die gräßlichen Schubladen wie E-Musik, U-Musik, Avantgarde usw. verteilt werden, nicht nur einander gegenüber zu stellen, sondern, was noch wichtiger ist, sie für das gleiche Publikum in der gleichen Veranstaltung zu präsentieren”, meinte Gulda im Anschluss an das Salzburger Projekt in einem Interview.
Ähnliches hatte er auch drei Jahre später im Sinn, als er zu den Initiatoren des Münchner Klaviersommers gehörte. Das bis heute bestehende Festival wurde zu einem Knotenpunkt grenzüberschreitender Pianokunst und bot Gulda während der folgenden Jahre immer wieder die Möglichkeit, sich mit ungewöhnlichen und auch umstrittenen Programmen wie den bewusst mit den Stilmitteln des Trivialen jonglierenden “Paradise Nights” zu präsentieren. "In den Siebzigern wandte er sich ganz anderen Dingen zu und war nicht mehr der Konzertpianist im herkömmlichen Sinn. In den Achtzigern interessierten ihn hauptsächlich die eigenen Kompositionen und in den letzten Lebensjahren spielte er neben “Weltmeister” Mozart nur mehr vereinzelt Teile seines alten Repertoires", fasst einer der Söhne des Meisters, der Pianist Paul Gulda (*1961), die späten Jahre zusammen. Am 27. Januar 2000 starb Friedrich Gulda überraschend im österreichischen Weißenbach und hinterließ ein umfassendes und mit Hilfe seiner langjährigen Lebenspartnerin und Nachlassverwalterin Ursula Anders sorgfältig in Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon wiederveröffentlichtes Oeuvre, das in jeder Hinsicht außergewöhnlich ist.