Wilhelm Furtwängler | News | Das innere Ohr

Das innere Ohr

29.10.2004
Wer Erfolg hat, muss mit Neidern und Kritikern rechnen. Wilhelm Furtwängler konnte ein Lied davon singen. Denn zum einen war er eine der großen Künstlergestalten des vergangenen Jahrhunderts, umjubelt und umworben wegen seiner unnachahmlichen Art, Musik aus ihrem Innersten heraus zu verstehen und diese daraus gewonnenen Erkenntnisse auf ein Orchester zu übertragen. Auf den anderen Seite machte ihn seine Entscheidung, Nazi-Deutschland bis kurz vor Kriegsende nicht zu verlassen, zu einer umstrittenen Figur des Kulturlebens, deren Klasse sich die Diktatur zunutze machte.
Unabhängig davon ist Furtwängler noch immer ein Monolith des Dirigierkunst und die Deutsche Grammophon nimmt seinen 50sten Todestag am 30. November 2004 zum Anlass, ihn mit einer besonderen Box mit raren historischen Aufnahmen zu ehren.
 
Letztlich war er in Hinblick auf sein nationales Ethos naiv. Wilhelm Furtwängler (1886–1954) hätte genug Gelegenheiten gehabt, dem Land des braunen Terrors den Rücken zu kehren, etwa als Arturo Toscanini ihn 1936 als seinen Nachfolger an der Spitze der New Yorker Philharmoniker vorgeschlagen hatte, eine Stelle, die er mit Sicherheit bekommen hätte. Doch der geborene Berliner wollte seine Heimat trotz aller düsterer Vorzeichen nicht im Stich lassen und begnügte sich mit dem, was die Historiker später die innere Emigration nannten. Den Propagandisten des Systems war das nur Recht, denn auf diese Weise hatten sie ein prominentes Aushängeschild für ihre vermeintliche kulturelle Toleranz, die nicht erst wie die Olympischen Spiele mühsam inszeniert werden musste. Allerdings bekam auch Furtwängler zu spüren, dass er sich nicht alles erlauben konnte. Als er 1934 eine Symphonie auf der Basis von Hindemiths Oper “Mathis der Maler” dirigierte, wurde er von politische Seite abgemahnt und von der Presse scharf angegriffen. Für jemanden, der 1924 bereits Strawinsky bei dessen Konzert begleitet hatte, 1927 mit Bartók persönlich dessen erstes Klavierkonzert vorgestellt oder 1928 Schönbergs Orchester-Variationen uraufgeführt hatte, war ein derartiger Kleingeist ein Affront. Er legte seine Ämter nieder und konzentrierte sich vorübergehend nur noch auf das Komponieren.

Doch Furtwängler kehrte zurück an das Pult der Berliner Philharmoniker und so konnten vor allem durch die Hörfunkaufzeichnungen der Dreißiger Kunstwerke geschaffen werden, die seinen Ruhm als genialer, eigenwilliger und bei aller Nüchternheit in seinem Herzen romantischer Dirigent mehrten. Für die 2CD-Jubiläumsbox The Fascination Of Furtwängler konnte die Deutsche Grammophon zum Teil auf frühes und spektatuläres Material zurückgreifen, das aus diesem Anlass unter bestmöglichen Bedingungen remastert wurde. Bereits 1926 entstand zum Beispiel eine 6′20′'-Version (auf eine Schellack passten pro Seite nur gute drei Minuten Musik!) des ersten Satzes von Beethovens Fünfter, deren trockene Dynamik und kompakte Orchesterführung auch nach einem Dreivierteljahrhundert noch mitreißt. Überhaupt hat die Edition viele Hörjuwelen zu bieten. Sie reichen von Ausschnitte historischer Aufnahmen – vom “Brandenburgischen Konzert Nr.3” (1930), Mendelssohns “Hebriden-Quvertüre” (1930), Wagners “Götterdämmerung” (1933) – bis hin zu Sätzen legendärer Einspielungen der Nachkriegszeit wie Schubert Neunte (1951), Schumanns Vierte (1953), Furtwänglers Zweite (1951) oder auch das komplette “Concerto grosso in D-dur op.6, No.5” von Händel.
 
So ist The Fascination of Furtwängler ein in vieler Hinsicht außergewöhnliches Dokument, das nicht nur seinen künstlerischen Werdegang nachvollziehen lässt, sondern zugleich einen Menschen und dessen Werk würdigt, der immer auf sein inneres Ohr gehört hat: “Er versuchte, die tiefsten Tiefen auszuloten, weil er nach einem organischen Ganzen strebte, das nicht aus dem sklavischen Festhalten an einem ehern festgeschriebenen Text erwachsen sollte, sondern aus der Ausformung jedes einzelnen expressiven Moments innerhalb der konsequent durchgeplanten Gesamtanlage des jeweiligen Werkes” (New Grove Dictionary)