Musik ist für die meisten Menschen ein ständiger Begleiter ihres Lebens. Dadurch wird sie zu einem Medium der Erinnerung. In manchen Fällen erinnert man sich haargenau daran, wann man eine bestimmte Musik zum ersten Mal gehört hat und wie einschneidend das Hörerlebnis war. Die Intensität solcher Erlebnisse verstärkt sich noch, wenn eine bestimmte Lebenserfahrung wie das erste Verliebtsein mit der Musik assoziiert ist.
Die deutsch-japanische Pianistin
Alice Sara Ott hat sich diese Phänomene zunutze gemacht, um ein sehr intimes Konzeptalbum mit der Musik ihres Lebens zusammenzustellen. Im Zentrum des Albums, das unter dem Titel “
Echoes Of Life” erscheint, stehen die 24 Préludes op. 28 von
Frédéric Chopin.
Fließende Klänge
Zwischen den Préludes erklingt schillernde Klaviermusik des 20. und 21. Jahrhunderts, ein bunter Mix aus inspirierenden Werken von
Francesco Tristano,
György Ligeti,
Nino Rota,
Chilly Gonzales,
Tōru Takemitsu,
Arvo Pärt und Ott
selbst. Mit Tristanos “In The Beginning Was” und Otts “Lullaby To Eternity”, einer Bearbeitung des berühmten Lacrimosa aus Mozarts Requiem, enthält das von hoher Beweglichkeit und nie nachlassender Spannung zeugende Album zwei Weltersteinspielungen.
“Echoes Of Life” ist von soghafter Wirkung. Das Album schlägt den Hörer vom ersten bis zum letzten Takt in Bann. Mit dem Auftaktstück, Tristanos “In The Beginning Was”, wird man sanft in das Klanggeschehen hineingezogen. Die lyrisch-sphärisch, leicht jazzig angehauchte Stimmung der Klavierminiatur ist wie gemacht für Ott, die mit ihrem hochagilen Spiel fließende Klänge beherrscht wie kaum jemand sonst. Dass Chopins Préludes ihr liegen, war nach ihrem grandiosen Album mit Chopins Walzern erwartbar. Dennoch ist man, zumal mit den wegweisenden Aufnahmen von Größen wie
Martha Argerich oder
Maurizio Pollini im Gedächtnis, überwältigt, wie viel Neues Ott in den Préludes entdeckt. Ihr virtuoses Spiel offenbart einen in dieser Fülle nicht zu erwartenden Farbenreichtum und ein enormes Spektrum an Stimmungen. Ott entreißt die Préludes ihrer Klassizität. Sie trägt sie zu uns, ins 21. Jahrhundert.
Akt der Emanzipation
Zu dieser Wirkung trägt auch die Konzeption des Albums bei. Wenn Chopins erhabenes Regentropfen-Prélude neben Gonzales’ meditativem Prélude in cis-Dur (“No Roadmap To Adulthood”) und das den Zyklus von Chopin abschließende, funkensprühende Allegro appassionato in d-Moll direkt vor Otts hypnotischer Klangpoesie in “Lullaby To Eternity” erklingt, dann beginnen Chopins Préludes in einer viel zeitgemäßeren, intensiveren Weise zu leuchten, als wenn sie für sich allein stehen.
Ott vollzieht mit “Echoes Of Life” einen Akt der Emanzipation. Zwar zeigt sie sich in ihrem Booklet-Essay dankbar für ihre klassische Ausbildung. Zugleich drückt sie aber auch ihr Befremden über die “Erwartungshaltung an Bildung und Etikette in der klassischen Musikszene” aus und plädiert für mehr Offenheit. Dafür steht auch das von Sonia Trinkl eigens für das Album entworfene, blaue Outfit der Pianistin. “Es erinnert mich”, so Ott, “an die Vielseitigkeit des Lebens.”