András Schiff setzt seine Entdeckungsreise in frühromantische Klanggefilde fort. Sein zweites Schubert-Album mit Interpretationen auf dem Hammerklavier widmet sich dem visionären Spätwerk des österreichischen Komponisten.
Der Stil eines Komponisten speist sich nicht allein aus seinen persönlichen Phantasien und individuellen Fähigkeiten. Zu allen Zeiten finden Künstler bestimmte kulturelle Voraussetzungen vor, die sie sich in irgendeiner Weise anverwandeln müssen. Die Stimmung, das soziale Umfeld, aber auch die technischen Fertigkeiten einer Epoche sind von kaum zu unterschätzender Bedeutung, will man zum Beispiel einem Phänomen wie dem der musikalischen Romantik auf die Spur kommen.
Wienerischer Geschmack: Das Fortepiano von Franz Brodmann
András Schiff tut dies auf seine Weise. Der intellektuelle Pianist erkundet seit Jahren im Medium des Hammerklaviers das spezielle Klangempfinden von Franz Schubert. Schiff spielt ein Fortepiano von Franz Brodmann, das um 1820 in Wien gefertigt wurde. Das Instrument besitzt eine hohe sangliche und dynamische Qualität. Zwar klingt es nicht so ausgewogen wie ein moderner Flügel. Dafür verfügt es über eine breite Palette an Klangfarben und eine erstaunliche Gelenkigkeit, die insbesondere den liedhaften und tänzerischen Neigungen von Franz Schubert entgegenkommt. “Es ist für mich ideal für Schuberts Tastenwerke geeignet”, so András Schiff. “Es gibt etwas ganz Wienerisches in seinem Timbre, seiner zarten Sanftheit, seiner melancholischen Cantabilità.”
Der visionäre Schubert: Eigenwilliges Spätwerk
Im Jahre 2015 veröffentlichte András Schiff bei ECM New Series sein erstes Album mit Schubert-Interpretationen auf dem Fortepiano und erntete dafür international viel Zuspruch. Jetzt setzt er das Projekt mit Spätwerken von Franz Schubert fort. Schiff widmet sich auf seinem neuen Album den Klaviersonaten in c-Moll (D 958) und A-Dur (D 959), den “Vier Impromptus” (D 899) sowie den von Johannes Brahms posthum herausgegebenen “Drei Klavierstücken” (D 946) des österreichischen Komponisten.
Was diese Werke bei all ihrer Mannigfaltigkeit eint, ist ihr innovativer Charakter, ihr moderner Atem. So stark Beethovens Einfluss immer noch nachwirkt, so deutlich tritt Schubert in seinen letzten Lebensjahren aus dem Schatten seines übermächtigen Vorbilds heraus. Misha Donat analysiert dies in seinem eloquenten Booklet-Essay in erhellender Weise.
Bar jeder Nostalgie: Schiffs Modernität
Dabei erhebt sich allerdings unweigerlich die Frage, ob der weit in die musikalische Zukunft vorausblickende, der visionäre Schubert auf einem modernen Flügel nicht viel besser aufgehoben wäre? Man könnte dies meinen. Aber wenn man Schiffs neues Album hört, dann verflüchtigt sich dieser Zweifel. Das prononcierte Spiel des ungarischstämmigen Pianisten und die Klangfarbenpracht seines Instruments funktionieren bar jeder Nostalgie. Es sind sogar vornehmlich die besonders modern anmutenden Ideen von Franz Schubert, die sich auf dem Fortepiano ausgezeichnet verwirklichen lassen.
So nimmt der fast ununterbrochene sangliche Fluss der “Vier Impromptus” bei Schiff fast rauschhafte Dimensionen an, und der schockierende Gefühlstaumel, dem Schubert im zweiten Satz seiner späten Klaviersonate in A-Dur Ausdruck verleiht, entfaltet auf dem Hammerklavier eine noch drastischere Wirkung.
Dadurch verfestigt sich der Eindruck, dass sowohl Schuberts persönliche Gesten als auch sein wienerischer Einschlag auf dem Fortepiano ungefilterter zur Geltung kommen. Jedenfalls gelingt es András Schiff mit seinem empfindsamen, nicht selten improvisatorisch anmutenden Spiel, den seltsam quer zur Restaurationsepoche stehenden, innovativen Geist der Frühromantik im Wien der 1820er Jahre lebhaft zu vergegenwärtigen.