Andreas Scholl ist ein neugieriger Künstler. Das liegt nicht nur in seinem Naturell, sondern auch in den Vorgaben begründet, die sein Stimmfach mit sich bringt. Denn Lieder für Countertenöre sind häufig für
Kastraten geschaffen worden. Als diese im frühen 19.Jahrhundert unzeitgemäß wurden, versiegte oft auch das Bedürfnis der Komponisten, für die ungewöhnliche Stimmfarbe und Stimmlage zu schreiben. Wer also als
Countertenor heute nach neuen Impulsen oder verschütteten Preziosen sucht, ist auf den eigenen Wagemut angewiesen, Gewohnheiten der Interpretation hinter sich zu lassen.
Große Meister in neuem Gewand Eine Möglichkeit ist es, Lieder für Tenöre oder Baritone auf die eigene Stimme zu übertragen. “Es geht mir nicht darum, der erste Countertenor zu sein, der irgendein Lied singt“, meint
Andreas Scholl zu den Ursprüngen seines Albums
Wanderer. „Ich will nur die Lieder vortragen, die mich persönlich berühren. Und das kann ebenso ein Lied von Schubert, Mozart oder Haydn sein wie eines von Dowland. Wenn der Sänger sich aufrichtig darum bemüht, gibt es keinen Grund, weshalb ein Countertenor diese Lieder nicht ebenso singen kann wie ein Tenor oder Bariton.”
Ein gutes Team Damit so eine Grenzüberschreitung auch gelingt, muss man auf eine profunde Basis und ein gutes Team aufbauen können.
Andreas Scholl, geboren im Rheingau als Sohn von Eltern, die selbst als Sänger aktiv waren, stieg die Erfolgsleiter vom Kirchenchor über die renommierte Schola Cantorum in Basel bis hin zu den großen Bühnen der Gegenwart hinauf und gilt inzwischen als „die kultivierteste Countertenor-Stimme der Welt“ (The Times). Seine Partnerin
Tamar Halperin studierte an der legendären New Yorker Juillard School und bewies bereits an der Seite des Jazzpianisten
Michael Wollny ihr Gespür für ungewöhnliche Projekte.
Schubert und Haydn als Zentrum So konnte Wanderer zu einem Programm heranwachsen, das populäre Lieder wie Mozarts „Das Veilchen“, Schuberts „Abendstern“, „Ave Maria“ und „Der Tod und das Mädchen“, Brahms' „All' mein Gedanken“ oder auch Haydn „The Wanderer“ und „Despair“ in verändertem Klanggewand präsentiert. Dabei entwickeln die insgesamt 19 Lieder des Programms, die im vergangenen Juli im Österreichischen Hohenems aufgenommen wurden, eine betörende Intensität der Interpretation. “Bei Liedern, wie bei allem, was ich singe, geht es mir vorrangig um Schlichtheit und Aufrichtigkeit“, meint Scholl als Leitgedanken seiner Vorstellungen von Gestaltung. Mit
Wanderer gelingt es ihm und Tamar Halperin, auf dieser Grundlage Kunst von zeitloser Größe zu schaffen.