Aus heutiger Sicht wirkt es brutal: Männer, die ihrer Zeugungsfähigkeit beraubt wurden, nur um die Schönheit ihrer knabenhaften Stimme zu erhalten. Die Kastraten selbst aber sahen es durchaus nicht so eng. Häufig hoch bezahlte Spezialisten, pflegten sie einen üppigen Lebensstil, der keine Minderwertigkeitsgefühle kannte. Ein Künstler wie Senesino zum Beispiel soll historischen Quellen zufolge ein durchaus arroganter und selbstgefälliger Kerl gewesen sein, dessen Stimme aber die Zeitgenossen Vivaldis zu Tränen rühren konnte. So hat es für einen international anerkannten Countertenor wie Andreas Scholl durchaus eine Faszination, dem Repertoire dieses barocken Bühnenstars nachzuforschen.
Ursprünglich gingen Kastraten auf ein Verbot durch die päpstliche Kirche zurück, die es Frauen untersagte, Bühnenrollen zu übernehmen. Zwar war die Kastration von offizieller Seite seit 1587 verboten, trotzdem sangen von 1562 an bis ins frühe 20.Jahrhunderte die engelsgleichen Stimmen in der päpstlichen Kapelle. Wirklich erfolgreich aber wurden sie vor allen durch die Oper, die Frauenrollen bis vor etwa 200 Jahren gerne mit Kastraten besetzte. Denn diese androgynen Gestalten konnten nicht nur verblüffend singen, sondern waren mitunter auch umschwärmte Objekte der Begierde seitens des Publikums. Der große Ferlini zum Beispiel soll um 1700 zahlreiche Fans derartig betört haben, dass selbst die Männer im Publikum ihn anbeteten, ja sogar für noch schöner als die Frauen hielten. Dieses Problem muss sein Kollege Senesino, der bürgerlich auf den Namen Francesco Bernardi hörte, allerdings nicht gehabt haben. Karikaturen zufolge war er alles in allem eine eher hässliche Gestalt, allerdings mit einer Stimme gesegnet, die ihn zu einem der gefragtesten Sänger seiner Generation im ausklingenden Barock werden ließ. Er wurde für ungeheure Summen an die Höfe liquider Potentaten gebucht, von Händel an die Royal Academy in London verpflichtet und verstand es wohl auch, seine Geringschätzung dem Publikumsvolk gegenüber in eingebildetem Gehabe spüren zu lassen. Trotzdem begeisterte er die Menschen und das wiederum rief den Countertenor Andreas Scholl auf den Plan, der Senesinos Epoche untersuchte und daraus ein Projekt ableitete, das sich den Kompositionen widmet, mit denen der damalige Bühnenstar seine Zeitgenossen begeisterte.
So entstanden die ungewöhnlichen Aufnahmen von Arias for Senesino, die auf bekannte und seltene Kompositionen von Georg Friedrich Händel, Tomaso Albinoni, Allesandro Scarlatti, Antonio Lotti und Nicola Porpra zurückgreifen. Scholl fand in der Accademia Bizantina unter der Leitung von Ottavio Dantone ein hervorragendes Ensemble, das ihm zum passenden akustischen Rahmen verhalf. Es wundert daher wenig, dass ihm damit ein beeindruckendes Klangkunstwerk gelungen ist, das mit einem Klassik Echo ausgezeichnet wurde und das von dem Kritiker Oswald Beaujean in der Wochenzeitung Die Zeit in den höchsten Tönen gelobt wurde: “Scholl zaubert sich mit atemberaubender stimmtechnischer Perfektion, mal hoch virtuos, mal tief anrührend, durch wichtige Partien des großen Sienesen. Darunter findet sich Vertrautes aus Händerls Cesare, Rinaldo und Rodelinda. Doch fast nebenbei entdecken Scholl und die herrlich flexible Accademia Bizantina auch ein paar vergessene Perlen der Barockoper: Sechs wunderbare Arien von Antiono Lotti, Tomaso Albinoni, Allesandro Scarlatti und Nicola Porpora lassen ahnen, dass es im Bereich der Barockoper nach wie vor einen Menge zu entdecken gibt”. Mit anderen Worten: Andreas Scholl wird so schnell der Stoff für seine Vokalkunst nicht ausgehen.
Und das ist auch gut so.