Kaum ein Dirigent bringt große Orchesterwerke mit solch einer vulkanischen Wucht und farblichen Fülle zur Geltung wie
Andris Nelsons. Der gefeierte lettische Dirigent, der seit 2018 das angesehene Amt des
Gewandhauskapellmeisters in Leipzig bekleidet und zugleich Chefdirigent des
Boston Symphony Orchestra ist, hat sich zu einem der größten sinfonischen Dirigenten unserer Zeit entwickelt. Dass Andris Nelsons die Anlagen hat, in die Fußstapfen von Ausnahmegestalten wie
Leonard Bernstein oder
Claudio Abbado zu treten, zeichnet sich seit langem ab. Sein laufender, mit etlichen Grammys prämierter
Schostakowitsch-Zyklus mit dem Boston Symphony Orchestra und seine 2019 erschienene Gesamteinspielung aller neun
Beethoven-Sinfonien mit den
Wiener Philharmonikern gelten bereits jetzt als Meilensteine in der jungen Aufnahmegeschichte des 21. Jahrhunderts.
Mit seinem Bruckner-Zyklus ist Andris Nelsons der elektrisierenden Modernität des österreichischen Komponisten auf der Spur. Anton Bruckner galt lange Zeit als Hinterwäldler und bloße Fußnote der großen romantischen Tradition des 19. Jahrhunderts. Andris Nelsons lässt hingegen den musikalischen Eigensinn des visionären Komponisten hervortreten. Die wie Felsbrocken hereinbrechende, eruptive Wucht Anton Bruckners und seine farbenprächtige Klangpoesie vereint der lettische Ausnahmedirigent in einem faszinierenden Balanceakt.
Existenzielle Erfahrung
“Derart feinhörig und sensibel dirigiert hört man Bruckner kaum je”, urteilte denn auch das Musikmagazin Fono Forum, als Andris Nelsons vor knapp vier Jahren seinen Bruckner-Zyklus startete und ganz neue Dimensionen im Werk des österreichischen Komponisten entdeckte. Jetzt veröffentlicht Deutsche Grammophon den fünften Teil der ambitionierten Albumserie. Auf dem Programm stehen nun die Sinfonien Nr. 2 und Nr. 8 von Anton Bruckner, beide in c-Moll. Wie schon in den vorherigen Alben ist auch in dieser Folge des großen Aufnahmeprojekts eine Arbeit von Richard Wagner zu erleben, diesmal das furiose Vorspiel zu den Meistersingern.
Anton Bruckner war stark von Wagner geprägt, und Nelsons verfolgt mit seinem Sinfonienzyklus auch das Ziel, diese Prägung musikalisch erlebbar zu machen. Mit dem Vorspiel zu den Meistersingern gelingt ihm dies glänzend, denn so heroisch und selbstbewusst das berühmte Vorspiel auch daherkommt, so fein ist es harmonisch gewoben und gemahnt in seiner poetischen Schönheit an die lyrischen Neigungen von Anton Bruckner.
Andris Nelsons lässt dem Gewandhausorchester Leipzig viel Freiheit, um seine gewachsene Beziehung zu Bruckner ungestört zu entfalten. Die über weite Strecken erhabene Stille der zweiten Sinfonie verschafft sich mit natürlicher Selbstverständlichkeit Ausdruck, und die gewaltigen Klanglandschaften der Achten blühen in einer überwältigenden Farbenpracht. Für Nelsons gleicht das Erlebnis der Achten einer “existenziellen Erfahrung”. Bruckner sei mit dieser Sinfonie in Regionen vorgedrungen, “die anderen Komponisten unerreichbar blieben”. Wer das neue Album von Andris Nelsons hört, der bekommt eine Ahnung von dem göttlichen Funken in der Musik Anton Bruckners.