Andris Nelsons | News | "Ihre Musik geht unmittelbar unter die Haut" – Andris Nelsons mit ergreifenden Spätwerken von Sofia Gubaidulina

“Ihre Musik geht unmittelbar unter die Haut” – Andris Nelsons mit ergreifenden Spätwerken von Sofia Gubaidulina

Sofia Gubaidulina
© Peter Hundert
20.10.2021
Am 24. Oktober 2021 feiert die russische Komponistin Sofia Gubaidulina ihren 90. Geburtstag. Grund genug, ihr facettenreiches Schaffen zu würdigen. Der lettische Stardirigent Andris Nelsons hat deshalb mit dem Gewandhausorchester Leipzig, dem er seit 2018 als Gewandhauskapellmeister vorsteht, drei bedeutende Spätwerke der Komponistin aufgenommen, die er jetzt der Öffentlichkeit präsentiert. Zwei der Arbeiten sind jüngeren Datums: das Violinkonzert Nr. 3 “Dialog: Ich und Du” (2018) und das Orchesterwerk “Der Zorn Gottes” (2019). Mit “Das Licht des Endes” von 2003, ebenfalls für Orchester komponiert, befindet sich auch eine ältere Arbeit in dem Repertoire, das zwischen lyrischen Tönen und bebenden Orchesterklängen ein farbenreiches Spektrum an Stimmungen offenbart.
Nelsons ist mit dem Werk der Komponistin vertraut. 2017 leitete er die Uraufführung ihres Tripelkonzerts mit dem Boston Symphony Orchestra, ein einschneidendes Erlebnis für den Dirigenten, das ihn nachhaltig prägte. Es gelang ihm, Gubaidulina ab 2018 für drei Spielzeiten als Residenzkomponistin des Gewandhausorchesters zu gewinnen und die Zusammenarbeit noch zu vertiefen. 

Gubaidulinas Zuversicht spendende Musik

“Ihre Musik geht unmittelbar unter die Haut”, so Nelsons über Gubaidulinas Kompositionskunst, der er sich emotional stark verbunden fühlt. Die “spirituelle Tiefe” und das hoffnungsvolle Moment ihrer poetischen Klangwelten erfuhr der Dirigent auch bei den Aufnahmen für sein neues Album. Als er während des Corona-Lockdowns die beiden Orchesterwerke einspielte, spendete die Musik ihm und dem Gewandhausorchester “viel Zuversicht”.    
Auf dem Album spiegelt sich die intensive Atmosphäre bei den Aufnahmen eindrucksvoll wider. Man spürt die hohe Konzentration und die musikalische Hingabe des Gewandhausorchesters, das sich der von tiefer Sehnsucht nach dem Göttlichen durchdrungenen Musik von Sofia Gubaidulina kongenial nähert.

Energetische Wucht des Gewandhausorchesters

In dem Orchesterwerk “Der Zorn Gottes” besticht die energetische Wucht des Gewandhausorchesters. Die Gewalt der Blechbläser und die perkussiven Wirbel rufen das Gefühl einer Zeitenwende, einer Abrechnung Gottes mit der Menschheit, mit erstaunlicher Unausweichlichkeit hervor. “Das Licht des Endes” bringt dagegen, bei aller dramatischen Reibung und Dunkelheit, hellere Farben zum Vorschein. Im Violinkonzert "Dialog: Du und Ich” beeindruckt die solistische Leistung des russischen Geigers Vadim Repin, dem das Werk gewidmet ist. Repin, für Yehudi Menuhin der “beste und perfekteste Violinist”, den er je gehört habe, bewegt sich mit virtuosem Geschick zwischen den zart fließenden und hochgespannten Gesten des Violinkonzerts. 
Gubaidulina, die zu Sowjetzeiten eines “falschen Weges” geziehen wurde und von Dmitri Schostakowitsch Ermunterung erfuhr, hat eine moderne Klangsprache von ureigener Spiritualität geschaffen. Andris Nelsons besitzt, wie nicht zuletzt sein laufender Bruckner-Zyklus eindrucksvoll beweist, ein besonderes Gespür für geistliche Dimensionen in der Musik. Deshalb ist das Zusammentreffen von Gubaidulina und Nelsons ein Glücksfall.