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Sinfonie der Freude – Andris Nelsons' wegweisende Interpretation von Beethovens Neunter mit den Wiener Philharmonikern

Andris Nelsons
© Marco Borggreve
05.12.2019
Kaum ein Dirigent der Gegenwart versteht sich so glänzend auf monumentale Sinfonien wie Andris Nelsons. Der lettische Stardirigent besitzt ein besonderes Gespür für die klangliche Ausgewogenheit, für dramatische Bögen und emotionale Tiefenschichten großer Orchesterwerke. Sein grammy-gekrönter Schostakowitsch-Zyklus mit dem Boston Symphony Orchestra ist nur eines von vielen beredten Zeugnissen seiner hohen Auffassungsgabe sinfonischer Musik. Als sein jüngster Coup kann die Live-Einspielung aller neun Beethoven-Sinfonien mit den Wiener Philharmonikern gelten. Am 4. Oktober 2019 erschien bei Deutsche Grammophon eine Deluxe-Edition dieses Aufnahmeprojekts. Das Gelblabel läutete damit seine Feierlichkeiten anlässlich des 250. Geburtstags von Ludwig van Beethoven im kommenden Jahr ein.
Die Veröffentlichung des Zyklus löste binnen kürzester Zeit international begeisterte Reaktionen aus. So lobte das britische Musikmagazin “Gramophone” die frische, nie in Routine abgleitende Herangehensweise des Dirigenten. “France Musique” zeigte sich von der überwältigenden Energie der Aufnahme beeindruckt, und “NDR Kultur” pries den natürlichen Stil der Wiener Philharmoniker und deren “fantastisches Gespür für die Architektur” von Beethovens Sinfonien.   

Das Spiel der Kontraste 

Insbesondere “die Neunte ist großartig”, so der amerikanische Musikkritiker Andrew Farach-Colton, der die integrative Leistung des lettischen Ausnahmedirigenten am Pult hervorhob und sich von der Idee fasziniert zeigte, das berühmte Thema der “Ode an die Freude” zunächst sehr leise, im Pianissimo anklingen zu lassen. Die Stelle bereitet in der Tat Gänsehaut, erzeugt Nelsons auf diese Weise doch eine Stimmung maximaler Konzentration und Spannung, wodurch die überwältigende Macht des Chores später umso wuchtiger in Erscheinung tritt. 
Das Spiel der Kontraste zieht sich durch die gesamte Sinfonie. Nelsons versteht es meisterhaft, Beethovens Neunte nie langweilig werden zu lassen. Bei einem Werk, das im Durchschnitt eine Aufführungsdauer von knapp 70 Minuten hat – bei Nelsons sind es 68 Minuten –, ist dies eine sensationelle Leistung, wenngleich Beethoven mit seinem schier unendlichen Ideenreichtum und seiner emotionalen Tiefe natürlich den Grundstein dafür legte, dass man über weite Strecken gar nicht anders kann, als gebannt zuzuhören.

Beethovens Neunte: Ein Wunder

Für Andris Nelsons, der inzwischen zur Riege der Weltklasse-Dirigenten zählt und am 1. Januar 2020 zum ersten Mal das berühmte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigieren wird, grenzt die Komposition der Sinfonie Nr. 9 in d-Moll an ein Wunder. Beethoven befand sich, als er das Werk schuf, in einer niederschmetternden Lebenslage. Vollständig ertaubt, vernahm er keinen einzigen Ton der Neunten. Bei der Uraufführung im Jahre 1824 soll er, als das Publikum ihm frenetisch zujubelte, sogar auf die klatschende Menge aufmerksam gemacht worden sein. 
“Es geht nicht um mich, es geht um Beethovens geniale Musik”, hebt Andris Nelsons seine dienende Funktion als Dirigent hervor. Doch bei aller Zurückhaltung: Eine gewaltige Sinfonie wie die Neunte will geritten werden, und das gelingt dem lettischen Stardirigenten gemeinsam mit dem legendären Wiener Singverein unter der Leitung von Johannes Prinz und den hervorragend aufgelegten Sängersolisten, als da wären Camilla Nylund (Sopran), Gerhild Romberger (Alt), Klaus Florian Vogt (Tenor) und Georg Zeppenfeld (Bass), fantastisch. 
Umso erfreulicher, dass Deutsche Grammophon Nelsons’ elektrisierende Interpretation der Neunten jetzt noch einmal unabhängig von der neuen Gesamtedition aller neun Beethoven-Sinfonien gesondert veröffentlicht.