Als
Andris Nelsons vor knapp vier Jahren das begehrte Amt des Gewandhauskapellmeisters in Leipzig antrat, da wurde in den Feuilletons immer wieder die Ahnenreihe seiner großen Vorgänger aufgerufen: Namen wie
Felix Mendelssohn,
Arthur Nikisch,
Wilhelm Furtwängler,
Kurt Masur,
Herbert Blomstedt oder
Riccardo Chailly. Es ging darum, den enormen Erwartungen Ausdruck zu verleihen, die mit dem Amt verbunden sind, und um die sich damit aufdrängende Frage, ob der "weltweite Shootingstar seiner Zunft“ (FAZ) diesen Anforderungen gewachsen ist. Sein Bruckner-Zyklus mit dem Gewandhausorchester hat diese Frage schnell beantwortet. Die
Neue Zürcher Zeitung schrieb: "Nelsons scheint das große Erbe aufzunehmen, wie seine jüngsten Einspielungen der Sinfonien Anton Bruckners für die Deutsche Grammophon erweisen.“
Die musikalischen Fähigkeiten des lettischen Dirigenten, der neben seinem Amt in Leipzig nach wie vor den Posten des Chefdirigenten beim
Boston Symphony Orchestra bekleidet, scheinen tatsächlich wie geschaffen für
Anton Bruckner. Nelsons hat keine Scheu vor Pathos und großen Gefühlen. Er besitzt ein besonderes Gespür für dramatische Bögen, was den monumental angelegten Sinfonien Anton Bruckners zugutekommt. Schließlich hat er ein Faible für die spirituelle Aura des österreichischen Komponisten, der einerseits aus den Tiefen der katholischen Tradition schöpft, andererseits aber auch als Wegbereiter der musikalischen Moderne gilt, der die wuchtige Sinfonik eines
Gustav Mahler vorzubereiten half.
Sinfonische Klangekstasen
Jetzt hat Andris Nelsons das sechste Album seines gefeierten Bruckner-Zyklus veröffentlicht. Auf dem Programm stehen die Sinfonien N. 1 und Nr. 5 von Anton Bruckner. Um die Prägung des österreichischen Romantikers durch
Richard Wagner erlebbar zu machen, erklingt wie schon in den vorherigen Alben auch in der neuen Folge des Aufnahmeprojekts wieder eine Arbeit des revolutionären Opernkomponisten, diesmal das berühmte Prelude sowie Isoldes Liebestod aus Wagners Oper "Tristan und Isolde“.
Nelsons kostet Wagners großflächige Orchesterklänge in all ihren harmonischen Schönheiten aus. Der Dirigent lässt das Gewandhausorchester Leipzig atmen. Es agiert unter seiner Leitung fühlbar frei. Die Ausschnitte aus "Tristan und Isolde“ wirken wie die Eintrittspforte in die geheimnisvoll dunkle Welt von Bruckners Sinfonik, deren rhythmische Energie und harmonische Erfindungslust eine nie nachlassende Spannung erzeugen. Faszinierend ist, wie still Andris Nelsons die Sinfonie Nr. 1 in c-Moll beginnen lässt. Das Marschthema kommt mit äußerster Diskretion daher. Man wird sanft, fast unbemerkt in das Klanggeschehen hineingezogen.
Bruckners grenzsprengende Kraft
Diese hypnotische, verführerische Klangpoesie bewährt sich auch glänzend in dem bewegenden Adagio der Sinfonie Nr. 5 in B-Dur. Mit furioser Entschiedenheit demonstriert Nelsons hingegen, etwa in dem fesselnden Scherzo der fünften Sinfonie, Bruckners grenzsprengende Kraft. "Anton Bruckner hat in seinen Symphonien immer wieder Grenzen überschritten“, zeigt sich der Dirigent, der die Kompromisslosigkeit und Kühnheit der ersten und fünften Sinfonie bewundert, von Bruckners Innovationsgeist beeindruckt.