Vor fünf Jahren nahm der argentinische Bandonéon-Virtuose Dino Saluzzi mit dem sehr einfühlsamen norwegischen Schlagzeuger Jon Christensen das ebenso überraschende wie faszinierende Duo-Album “Senderos” auf. Auf “Ojos Negros” kommt es nun zu einem weiteren intimen musikalischen Zusammentreffen: Diesmal ist Saluzzis Duo-Partner die deutsche Cellistin Anja Lechner, die als Mitglied des Rosamunde Quartetts schon 1996 auf dem von der Kritik enthusiastisch bejubelten Album “Kultrum” mit dem Argentinier spielte. “Ojos Negros” kombiniert auf betörende Weise argentinischen Tango und andinische Volksmusik mit europäisch geprägter Kammermusik.
Mehr denn je zuvor stehen auf “Ojos Negros” die fein ausgearbeiteten Kompositionen Dino Saluzzis im Mittelpunkt. Die einzige Fremdkomposition des Albums ist das Titelstück, ein wundervoller alter Tango von dem 1924 gestorbenen Vicente Greco. Aber auch Improvisation und Interaktion kommen bei Dino Saluzzi und Anja Lechner, die im Laufe der letzten sechs Jahre zahlreiche Duo-Konzerte in der ganzen Welt gegeben haben, nicht zu kurz.
Die Cellistin Anja Lechner ist zwar in erster Linie eine klassische Musikerin, begann sich aber schon vor rund 25 Jahren für den Tango zu interessieren. Mit dem Pianisten Peter Ludwig bildete sie damals ein Duo, das sich der Interpretation von Tangos widmete. In den frühen 80er Jahren trat Anja Lechner dann zum ersten Mal in Argentinien auf und bemühte sich dort, einige der Meister des Tangos persönlich kennenzulernen. Dino Saluzzi traf sie allerdings erst Jahre später, als dieser ein Bandoneón-Solokonzert in München gab. “Er spielte ein Musik, die absolut seine eigene war. Ich kann wirklich sagen, daß ich, als wir das erste Mal zusammenspielten, eine neue musikalische Welt betrat.”
Im Laufe der gemeinsamen Arbeit wurde die Musik de Duos immer freier, während gleichzeitig der Respekt vor dem Material wuchs. Das Resultat ist eine Musik, die ein organisches Ganzes bildet. Saluzzi lobt das Engagement der Cellistin ebenso sehr wie ihre stilistische Unabhängigkeit: “Anja ist Teil der Musik geworden, ohne ihre eigene Identität aufzugeben. Ich denke, das ist sehr wichtig. Sie versucht erst gar nicht, Tangomusiker zu imitieren. Sie hat ihren eigenen Klang und Charakter, und dies bereichert unser gemeinsames Projekt kulturell.”
Der 1935 in Campo Santo im Norden Argentiniens geborene Timoteo “Dino” Saluzzi ist heute zweifellos eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der südamerikanischen Musik. Seine erste eigene Band gründete er schon mit 14 Jahren. Parallel zu seinem Studium in Buenos Aires begann er professionell aufzutreten. In der argentinischen Hauptstadt lernte er auch den vierzehn Jahre älteren Ástor Piazzolla kennen, der seinerzeit gerade das Konzept des Tango Nuevo entwickelte, und befreundete sich mit ihm. 1965 kehrte Saluzzi in seinee Heimatprovinz Salta zurück und konzentrierte sich auf das Schreiben eigener Stücke, wobei er in seine Kompositionen bewußt Elemente der andinischen Volksmusik integrierte. In den frühen 70er Jahren arbeitete er u.a mit dem Tenorsaxophonisten Gato Barbieri zusammen und half diesem dabei, auf historischen Alben wie “Chapter One: Latin America” zu seinen eigentlichen musikalischen Wurzeln zurückzufinden.
Sein erstes Album für ECM nahm Saluzzi im November 1982 auf. Das solo eingespielte Werk “Kultrum” präsentierte den Argentinier gleich als einzigartigen musikalischen Geschichtenerzähler. Noch im selben Monat war er auch an der Aufnahme eines weiteren ECM-Albums beteiligt: Als Mitglied der George Gruntz Concert Jazz Band wirkte er an der Einspielung von “Theatre” mit. In den 80er Jahren sollten noch zahlreiche andere Aufnahmen mit europäischen und amerikanischen Jazzmusikern folgen – für ECM etwa mit Charlie Haden, Palle Mikkelborg und Pierre Favre (“Once Upon A Time – Far Away In The South”), Enrico Rava (“Volver”), Marc Johnson (“Cité De La Musique”), Tomasz Stanko und John Surman (“From The Green Hill”) sowie Palle Danielsson (“Responsorium”). Besonderen Erfolg verzeichnete Dino Saluzzi auch mit den Platten, die er mit Mitgliedern seiner musikalischen Familie für ECM aufnahm: 1991 entstand “Mojotoro” und 2005 “Juan Condori”. Ein weiterer Höhepunkt war 1996 ein zweites “Kultrum”-Album, das Saluzzi diesmal nicht allein, sondern in Begleitung des Rosamunde Quartetts einspielte. Das Album war der Beginn der bis heute währenden musikalischen Beziehung zwischen Dino Saluzzi und der Rosamunde-Cellistin Anja Lechner.
Anja Lechner studierte bei Jan Polasek, Heinrich Schiff und János Starker. Seit 1992 ist sie die Cellistin des Rosamunde-Quartetts, das durch seine Auftritte bei internationalen Festivals und vor allem seine Aufnahmen für ECM weltweit Bekanntheit erlangte. Für das Münchner Label von Manfred Eicher spielte das Streichquartett unter anderem Werke von Schostakowitsch, Webern, Silvestrow, Mansurian und Haydn ein. Und mit Dino Saluzzi das hochgelobte Album “Kultrum”. Auch bei ihren Solo-Recitals spielt Anja Lechner mit Vorliebe zeitgenössische Musik, etwa Werke von Komponisten wie Valentin Silvestrow oder Tigran Mansurian. Darüber hinaus sucht sie die Zusammenarbeit mit anderen Musikern, bei denen ihre Fähigkeiten als Interpretin und Improvisatorin gefordert sind. Im Duo mit dem griechischen Pianisten Vassilis Tsabropoulos nahm sie 2004 für ECM das Album “Chants, Hymns, And Dances” auf. Zum Repertoire der beiden gehörten neben neuen Kompositionen von Tsabropoulos auch Musik von Georg Iwanowitsch Gurdjieff und byzantinische Hymnen. Das Album stürmte diverse Charts und war in den USA besonders erfolgreich. Lechner ist auch am vielgepriesenen “Song For Tarkovsky”-Projekt von Pianist François Couturier beteiligt, nahm zwei Alben mit dem Pianisten Misha Alperin auf (ein drittes wird gerade vorbereitet) und begleitete Sylvie Courvoisier auf Konzerttourneen.
Dino Saluzzi und Anja Lechner werden im März anläßlich der Veröffentlichung von “Ojos Negros” einige Konzerte in Argentinien geben und im April auf Tournee durch die USA gehen. Im Mai werden sie außerdem beim Spoleto Festival in Charleston/South auftreten. In Vorbereitung sind darüber hinaus noch europäische Gastspiele von Dino Saluzzi und Anja Lechner sowie von Dinos Familienband, die im Oktober 2006 bei ECM das Album “Juan Condori” herausbrachte.