Vor acht Jahren trafen sie sich zum ersten Mal. Es war auf dem
Nargen Festival in Estland, auf einer romantischen Insel unweit Tallinns.
Anja Lechner trat dort mit dem
Rosamunde Quartett auf,
Tõnu Kõrvits war als Komponist geladen.
Übergabe eines Werkes: Tõnu Kaljuste trifft Anja Lechner
Ein Jahr später ist Anja Lechner wieder in Estland. Die deutsche Cellistin spielt diesmal mit dem Tarkovsky Quartett in Estlands Hauptstadt, als Tõnu Kaljuste auf sie zukommt. Der estnische Dirigent ist Gründer des Nargen Festivals. Er gilt als einer der wichtigsten Exponenten der estnischen Musikkultur. Zahlreiche Projekte hat er mit ECM verwirklicht, darunter bedeutsame Einspielungen von Werken Arvo Pärts oder Veljo Tormis’.
Kaljuste hat ein Gefühl für hohe Qualität. Er spürt, wenn eine Komposition besonders ist, und er zeigt Anja Lechner ein Werk. Es ist Tõnu Kõrvits’ Seitsme Linnu Seitse Und (Seven Dreams of Seven Birds), eine Musik, die ursprünglich für Cello und Chor konzipiert war, bevor der Komponist die Streicher einarbeitete und eine Mischform aus Cello-Konzert und Chor-Suite schuf. Solche Formen passen zu Anja Lechner. Sie bieten ihr Freiräume.
Vibrierende Träume: Die Tonsprache von Tõnu Kõrvits (*1969)
“Das Stück ist wunderbar zu spielen”, bekennt sie gegenüber ECM und lobt das “tiefe Gespür für Naturklänge”, das sich in dem Werk Ausdruck verschaffe. Und in der Tat: Was man hier zu hören bekommt, weckt Assoziationen mit der Natur. Das alles geschieht ohne Zwang, ohne künstliche, programmatische Gesten, sondern mit einem Maximum an Freiheit. Und das schätzt Anja Lechner, wie ihr Spiel auf dem soeben erschienenen ECM-Album “Tõnu Kõrvits: Mirror” beweist.
“Mirror” ist Kõrvits’ Debüt bei ECM, und es ist ein gelungener Auftakt. Der estnische Komponist verfügt über eine große Spannbreite an Ausdrucksmöglichkeiten. Seine Musik klingt mal elegisch, mal vibrierend, mal meditativ. In den schönsten Momenten mischt Kõrvits diese Atmosphären. Die teilweisen Anklänge an Arvo Pärt und die deutlicher zu spürende Prägung durch Veljo Tormis, der fast so etwas wie eine Vaterfigur für den estnischen Komponisten war, hindern ihn nicht an einem eigenen Stil.
Gelungene Rahmung: So entdeckt man einen Komponisten
Mit einigen Werken knüpft Kõrvits direkt an Tormis an, so in der Transkription von dessen “Tasase maa laul” (“Plainland Song”), arrangiert für Gesang, Kantele und Streicher, oder in der Fantasie über dasselbe Lied, die Kõrvits für Chor und Cello komponierte und die Anja Lechner zu tiefsinnigen, das gesangliche Moment ihres Instruments auslotenden Abschweifungen anregt. Zahlreiche poetische Feinheiten bieten auch die “Labyrinthe” aus dem Jahre 2013, eine Suite für Streicher.
Tõnu Kõrvits hat mit der Sängerin Kadri Voorand, dem Estnischen Kammerorchester und dem Estnischen Philharmonischen Kammerchor unter der Leitung von Tõnu Kaljuste ausgezeichnete Künstler an Bord, die seine Musik verstehen. Das ist ein großer Vorteil, so wie es sich auch als eine günstige Fügung erweist, dass der Komponist bei ECM New Series gelandet ist. Seine Musik passt zu dem Label, das den Komponisten im Booklet geschickt portraitiert.
Mit dem Begleitessay von Paul Griffith wird man informativ an den Komponisten herangeführt. Die kunstvoll arrangierten Fotos zeigen die Musiker bei der Arbeit. Ferner erblickt man das Meer und schneebedeckte Dächer in Tallinn, Motive, die Sehnsuchtsgefühle wecken, wie Kõrvits’ Musik. Zusammen mit den abgedruckten Liedtexten entsteht so jene Mischung aus atmosphärischer Eindringlichkeit und kurzweiliger Information, die so typisch für ECM ist.