Es gibt Konzertabende, die gehen einem nicht mehr aus dem Sinn. So tief, so nachhaltig wurzeln sie sich im Gedächtnis ein, dass man sie nicht mehr vergessen kann und sich immer wieder an sie erinnert. Wer das Privileg hatte, die
Netrebko dieses Jahr bei den Salzburger Festspielen zu erleben, der wird dies bestätigen können. Die Reaktionen auf die konzertante Aufführung von Puccinis Oper
Manon Lescaut fielen unterschiedslos begeistert aus.
Niemand konnte sich dem Charme der Netrebko, ihrer sängerischen Klasse und dem emotional mitreißenden Rollenportrait der leidenschaftlichen Manon entziehen. Die Süddeutsche Zeitung beschwor Netrebkos “fabelhafte Stimme, die in jedem Register voll, glatt und reich klingt”. Die FAZ resümierte: “Sie steht auf dem Zenit ihres Könnens als letzte Operndiva alten Schlags.” Und Die Presse aus Wien gab zu Protokoll: “Kulissen braucht Anna Netrebko keine, um als Puccini-Heldin zu leben, zu leiden und zu sterben.”
Mädchen, Geliebte, Mätresse: Netrebkos Rollenportrait der Manon
Netrebkos Stimme ist so reich an dramatischen Nuancen, dass sie den Stoff der Oper und das Bühnengeschehen feingliedrig in ihren Gesang aufzunehmen vermag. Die konzertante Aufführung von Manon Lescaut stellte dies eindrucksvoll unter Beweis, und der seit Monaten heiß ersehnte Live-Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 2016 bestätigt einmal mehr die erstaunliche Plastizität, das sinnliche und theatrale Ausdrucksvermögen ihres Gesangs.
Wenn man das Live-Doppelalbum zuhause anhört, dann ist man immer wieder aufs Neue davon überwältigt, wie anschaulich die Netrebko durch ihren bloßen Gesang die bewegte Lebensgeschichte Manons vermittelt. Man versteht den tragischen Gang ihrer Heldin vom zartfühlenden Mädchen über die innig Liebende hin zur kriminell Verstrickten und unglücklichen Mätresse. Ergreifend, wie Netrebko in der Arie In quelle trine morbide das kalte Bett Gerontes verdammt und die Herzenswärme von Manons Geliebtem beschwört.
Hinreißende Duette: Anna Netrebko mit ihrem Ehemann Yusif Eyvazov
Manon hat des Geldes wegen bei Geronte de Ravoir Zuflucht gesucht, aber sie liebt den mittellosen Des Grieux. Die Liebe der beiden bildet das Herzstück der Oper, und dass Anna Netrebko dieser Liebe gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem aserbaidschanischen Tenor Yusif Eyvazov, auf den Grund geht, hat in Salzburg tiefe Gefühle der Rührung ausgelöst. Es verleiht der Interpretation eine ungewöhnliche Authentizität. Die Duette zwischen Manon und Des Grieux sind hinreißend. So intensiv, so eindringlich und realitätsnah hat man das menschliche Liebesverlangen selten in einem Kunstwerk erlebt.
Musikalisch trägt die kongeniale Begleitung des Münchener Rundfunkorchesters maßgeblich zu dem hohen Niveau der Interpretation bei. Das Dirigat von Marco Armiliato fächert “Puccinis geniale Orchestrierung so plastisch auf, wie man sie aus keinem Orchestergraben zu hören bekommt”, so die Neue Zürcher Zeitung. Netrebko fühlt sich in diesem Klangumfeld pudelwohl, und so entsteht im Zusammenspiel großer Künstler eine Meisteraufnahme, die durch das unterhaltsame Booklet mit dem Opernlibretto, den Fotos von der Aufführung und dem informativen Begleitessay von Michael Bastian Weiß eine würdige Rahmung erhält.