Immer wieder heißt es, Wagner sei laut, exzentrisch und von Größenphantasien beherrscht. Warum auch nicht? Eingefleischte Wagnerianer lieben den musikalischen Rausch. Sie baden in den Klangekstasen des Meisters.
Wagners Zartheit: Zwischentöne gefragt
Gegner des revolutionären Opernkomponisten werfen ihm hingegen Uferlosigkeit, vollkommen überzogenes Pathos und Gefühlsduselei vor. Was dabei jedoch außer Acht bleibt, ist die Zartheit Richard Wagners. Der große Neuerer des romantischen Ausdrucks blickte tief in die menschliche Seele, und dort stieß er nicht nur auf Gefühle der Revolte, sondern auch auf verletzliche Emotionen. Wagner wusste, was es heißt, hin- und hergerissen zu sein. Er kannte das mächtige Gefühl, etwas bewegen zu können, genauso wie unerfüllbare Sehnsüchte.
Kaum ein Dirigent besitzt für diese Gegensätze des weltberühmten Komponisten ein so feines Gespür wie Christian Thielemann. Der passionierte Wagnerianer hat die lyrisch-dramatischen Spannungen im Werk des Operngenies genau studiert, und weil der kraftstrotzende Wagner oft überbetont wird, hat er sich für seine jüngste Lohengrin-Aufführung zwei Sängerstars ins Boot geholt, die als Belcanto-Spezialisten um lyrische Zwischentöne wissen.
Lyrische Dramatik: Anna Netrebko und Piotr Beczała
“Es war eine Freude”, so Christian Thielemann, “mit zwei großen Sängern zu arbeiten, für die Wagner Neuland ist, die jedoch durch ihre künstlerische Intuition und ihre Intelligenz den Fluss italienischer Lyrik mit der Präzision deutscher Deklamation verbinden können.”
Anna Netrebko und
Piotr Beczała erwidern diese Begeisterung ohne jede Einschränkung.
Die russische Operndiva, berühmt für ihre enorme Wandlungsfähigkeit, ist hingerissen von den lyrischen Möglichkeiten Richard Wagners. “Zuerst sang ich alles sehr laut. Ich dachte: ‚Es ist Wagner – es muss laut sein!‘ Aber als ich zur Probe kam, ließ Maestro Thielemann das Orchester so leise spielen, dass ich es kaum hörte und so noch leiser singen konnte als beispielsweise bei Bellini oder Donizetti.”
Der polnische Meistertenor Piotr Beczała, den die Zeitschrift Opera jüngst zu einer “der aufregendsten Männerstimmen unserer Zeit” erklärt hat, entdeckte ganz neue Nuancen in seiner Stimme. Die Partie des Lohengrin, so Beczała enthusiastisch, “bezieht Aspekte der Stimme ein, die ich normalerweise im französischen, italienischen oder slawischen Repertoire nicht verwenden würde”.
Hautnahes Erlebnis: Hochauflösendes HD-Format
Die Begeisterung, mit der Anna Netrebko und Piotr Beczała den bewegenden Stoff der romantischen Oper bergen, vermittelt sich auf dem soeben erschienenen Video glänzend. Deutsche Grammophon hat für den Mitschnitt erstmals auf das hochauflösende Ultra HD-Format zurückgegriffen, und diese Entscheidung macht sich bezahlt. Es ist, als säße man in der Semperoper, so hautnah, so plastisch tritt einem das Bühnengeschehen entgegen.
Anna Netrebko singt eine großartige Elsa. Sie verleiht der Rolle eine bodenständige, natürliche Gestalt. Elsas Bedürfnisse kommen selbstverständlich zur Geltung. “Natürlich ist es ganz normal”, so Anna Netrebko, “dass Elsa wissen will, wer ihr künftiger Ehemann ist und woher er kommt.” Doch Lohengrin entzieht sich dem Zugriff. Obwohl er sich Elsa zuwendet, bleibt er der Unfassbare, der nicht befragt werden darf.
Piotr Beczała verkörpert diese Unnahbarkeit der Figur mit Bravour. Sein behutsamer Gesang vermittelt geschickt die rätselhafte Aura des Gralsritters, und so entsteht – nicht zuletzt auch dank der äußerst diskret musizierenden Staatskapelle Dresden und der mit Evelyn Herlitzius (Ortrud), Tomasz Konieczny (Telramund) und Georg Zeppenfeld (König Heinrich) hervorragend besetzten Nebenrollen – ein erstaunlich zartes Lohengrin-Drama, das unmittelbar zu Herzen geht.