Es ist ein Auftakt nach Maß. Verheißungsvoller hätte es jedenfalls nicht kommen können. Der designierte Gewandhauskapellmeister und zweimalige Grammy-Preisträger Andris Nelsons gibt mit seiner ersten Live-Aufnahme aus dem Gewandhaus schon jetzt die Richtung vor, die das berühmte Leipziger Orchester unter seiner Leitung einschlagen wird.
Verheißungsvoll: Andris Nelsons in Leipzig
Dabei drängt sich bereits eine Prognose auf: Andris Nelsons passt nach Leipzig. Seine Berufung auf den begehrten Posten des Gewandhauskapellmeisters war wahrscheinlich ein Geniestreich. Das Publikum darf sich jedenfalls auf eine spannende Zeit freuen, wenn der lettische Dirigent im kommenden Jahr das bedeutende Amt in Leipzig antreten wird. Doch langsam: Woher kann man das jetzt schon wissen?
Woher rührt die Ahnung, dass der junge Lette ein würdiger Nachfolger des großen Riccardo Chailly sein wird? Es ist die außerordentlich hohe Qualität seines neuen Albums. “Anton Bruckner: Symphony No. 3” wirkt wie eine Versprechung. Es ist, als wollte Andris Nelsons mit dieser Veröffentlichung sagen: So machen wir das hier. Wir werden den dunklen, noblen Klang dieses Orchesters sorgsam weiterpflegen.
Große Tradition: Das Gewandhausorchester
Zugleich werden wir in die Tiefe gehen, werden noch weiter graben nach verborgenen Klangschönheiten, die das romantische Erbe für alle Geduldigen und leidenschaftlich Suchenden bereithält. Und wo, wenn nicht in Leipzig, wäre eine solche Archäologie vergangener Klangwelten besser aufgehoben? Das Traditionsorchester, dessen Wurzeln bis in das Jahr 1479 zurückreichen, steht mit den größten Namen der europäischen Musikkultur in Verbindung.
Genies wie Beethoven, Schumann, Schubert, Mendelssohn, Bruckner oder Wagner feierten hier Uraufführungen ihrer Werke. Das Gewandhausorchester trägt die Überlieferung mit sich. Wenn man diesen Klangkörper hört, dann nimmt man Tuchfühlung mit den größten Komponisten der Geschichte auf. Das weiß auch Andris Nelsons, der das gediegene Flair des Orchesters liebt. Zugleich ist der lettische Dirigent alles andere als ein altmodischer Nostalgiker.
Klangekstasen: Bruckner und Wagner
Nelsons möchte die romantische Tradition am Leben erhalten. Er ist überzeugt davon, dass sie zu uns, den Menschen des 21. Jahrhunderts, spricht. Das gilt im besonderen Maße für Bruckner, der im Gefolge Wagners eine ganz eigene, visionäre Tonsprache entwickelt hat. Bruckner ist hochmodern. Ihn “beschäftigten dieselben existenziellen Fragen und Zweifel wie uns alle”, so Andris Nelsons, “und darum hat uns seine Musik gerade heute so viel zu sagen. Sein Glaube und seine innere Stärke spiegeln sich überall in seiner Musik.”
Nelsons arbeitet diese erhebende Kraft Bruckners in seinem neuen Album glänzend heraus. Man spürt allenthalben die romantische Leidenschaft, mit der er das Orchester antreibt. Die bisweilen mächtigen, schroffen Klangblöcke Bruckners zeichnen sich klar ab. Aber auch die verletzlichen, lyrischen Nuancen des österreichischen Komponisten kommen ausgezeichnet zur Geltung. Dass Nelsons ein Feingespür für lange Bögen besitzt, zeigt sich schließlich in Wagners Ouvertüre zum Tannhäuser, die sich ebenfalls auf dem neuen Album findet.
Ein Hochgenuss, wie er hier die Spannung bis zum Äußersten treibt. Das macht Lust auf mehr, und die gute Nachricht ist, dass Andris Nelsons in den kommenden Jahren nach und nach sämtliche Sinfonien von Anton Bruckner, kombiniert mit Auszügen aus Wagners Opern, für das Gelblabel aufnehmen wird. Ein faszinierendes Projekt, das sowohl Bruckners eigenwillige Sinfonik als auch seine Prägung durch Richard Wagner erlebbar machen wird. Wie reizvoll dies ist, beweist das neue Album von Andris Nelsons.