Arvo Pärt wollte nie Kompromisse. Als seine große Krise ausbrach, wartete er geduldig, bis sich ihm neue Tonwelten erschlossen. Seine persönliche und musikalische Neuausrichtung fällt in die Jahre 1968 bis 1976. Der estnische Komponist sucht damals fieberhaft nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Die avantgardistischen Strategien haben sich für ihn erschöpft. Er hatte sie zuvor leidenschaftlich erprobt.
Stiller Klangrevolutionär: Arvo Pärt
Doch in seinem Inneren rumort es. Religiöse Gefühle brechen sich Bahn. Die verkopften Mittel der jüngeren Vergangenheit helfen ihm nicht weiter. Sie fügen sich nicht in sein spirituelles Erleben, das den religiös heimatlos gewordenen Lutheraner in den Schoß der russisch-orthodoxen Kirche treibt und seine musikalische Suche in der Gregorianik inspiriert. Bloße Imitation kommt nicht in Frage. Pärt ist ein Mann der Gegenwart. Er blickt mit modernen Augen in die religiöse Vergangenheit.
Aber irgendetwas ist da, dass sein eigenes Erleben mit dem der geistlichen Tradition verbindet. Man hat es als äußerste Konzentration, als eine Kunst der Stille, des gedehnten Zeiterlebens zu fassen versucht. Doch welcher Begriff auch immer der richtige ist, der Pärts stilistischen Durchbruch treffend charakterisiert, dem estnischen Komponisten gelingt in den siebziger Jahren die Ausformung einer ureigenen Klangsprache, die moderne, minimalistische Prinzipien mit geistlichen Stimmungen verbindet.
Energischer Drang: Junge Revolte
Bis dahin ist es jedoch ein langer Weg, und dass dieser Weg nicht nur von avantgardistischen Sackgassen gesäumt ist, sondern eine spannende Entdeckungsreise darstellt, davon zeugt die soeben erschienene Edition mit allen vier Sinfonien von Arvo Pärt. Der estnische Dirigent und langjährige Pärt-Vertraute Tõnu Kaljuste hat diese Werke im Vorjahr mit dem NFM Wrocław Philharmonic für ECM New Series neu aufgenommen. “Ich begreife die Schöpfungen von Arvo Pärt als eine biographische Erzählung”, so Tõnu Kaljuste.
Die Strecke vom jungen, wilden Experimentator zum reifen, hochkonzentrierten Poeten, der meditative Meisterwerke wie “Für Alina” oder “Fratres” schafft, gerät in dieser Sinfonien-Edition denn auch als Ganzes in den Blick. Dabei zeigt sich, dass das energiegeladene Frühwerk weit mehr als ein bloßer Vorläufer der vollendeten minimalistischen Klangkunst von Arvo Pärt ist. Die frühen Sinfonien des estnischen Komponisten sind Klangkosmen für sich, die rhythmisch heftig pulsieren und mit spannungsreichen Harmonien geladen sind.
Allmähliche Wende: Spirituelle Reduktion
Schon in der Sinfonie Nr. 1 (“Polyphonic”), die Pärt als Schüler von Heino Eller im Alter von 28 Jahren schuf, ist ein ungeheures Drängen zu vernehmen. Das steigert sich in der Sinfonie Nr. 2 noch, die wie die erste auf zwölftontechnische Mittel zurückgreift, aber insgesamt freisinniger, improvisatorischer anmutet. Mit der dritten Sinfonie ziehen stillere Töne bei Arvo Pärt ein.
Dieses Werk ist melodischer, lyrischer, nachdenklicher und markiert bereits durch Pärts Rückkehr zur Tonalität einen Wendepunkt. In der vierten Sinfonie (“Los Angeles”) erleben wir Pärt so, wie wir ihn in den Achtzigern bei ECM kennengelernt haben: meditativ, verträumt, eine Spur melancholisch, mit endlos viel Zeit und spirituellen Akzentsetzungen.
Der stark von vokalen Elementen geprägte, geduldig dahinfließende Klangstrom löst versöhnliche Empfindungen aus. Arvo Pärt komponierte die Sinfonie Nr. 4 im Jahre 2008. Sie bildet den vorläufigen Schlusspunkt einer Sinfonik, die 1964 ihren Anfang nahm. Über vier Jahrzehnte umspannt die soeben erschienene Sinfonien-Edition mithin und gewährt damit tiefe Einblicke in Pärts künstlerischen Entwicklungsgang.