Stimmungen zu erzeugen, ist nicht allein Sache der Technik. Es gehört ein Gespür dazu: eine Empfänglichkeit für die Atmosphäre, um die es geht.
Heilige Stimmungen: Vox Clamantis
Das gilt für viele Künste, aber in der geistlichen Chormusik gilt dies in besonderem Maße. In einer Welt, in der das religiöse Erbe Europas ferner zu rücken scheint, braucht es passionierte Vermittler, die den Sinn spiritueller Kunst verinnerlicht haben. Bei Vox Clamantis ist dies der Fall. Das estnische Vokalensemble besitzt diesen speziellen Sensus, das ästhetische Feingespür für andachtsvolle, heilige Stimmungen, die von sehr weit her kommen.
Gegründet, um das Fundament der europäischen Kunstmusik zu erkunden, sind die Sängerinnen und Sänger um den Dirigenten Jaan-Eik Tulve tief in die religiöse Atmosphäre Gregorianischer Choräle und der frühen Polyphonie eingedrungen. Dabei ließen sie sich nicht von nostalgischen Interessen leiten, sondern spürten dem lebendigen Atem dieser uralten Klangwelten nach – eine musikalische Grundhaltung, die sie mit Arvo Pärt verbindet.
Der Stille nachspüren: Klangarbeit mit Arvo Pärt
Wiewohl ein moderner Komponist, der sich in jungen Jahren avantgardistischer Techniken wie dem 12-Ton-Schema bediente, hat der heute weltberühmte Este vor allem mit spirituellen und meditativen Klängen seinen Personalstil ausgeprägt und internationale Bedeutung erlangt. Wie Vox Clamantis, so ist auch
Arvo Pärt an dichten Klängen interessiert, und wie das Vokalensemble, so schätzt der Komponist das stille, nachdenkliche Moment musikalischer Schöpfungen.
Vox Clamantis und Arvo Pärt fanden bereits im Jahre 1999 zusammen, als das estnische Vokalensemble Pärts Orgelstück “Annum per annum” mit Gegorianischen Gesängen aufgliederte, wovon der Komponist sich begeistert zeigte. Etliche gemeinsame Projekte folgten, und im neuen Album findet die bewährte Zusammenarbeit nun ihre Fortsetzung. Das Album mit dem Titel “The Deer’s Cry” enthält 13 geistliche Chorwerke von Arvo Pärt, darunter drei Ersteinspielungen und eine a cappella-Version eines sonst instrumental begleiteten Stückes.
Reinheit und Trance: Facetten spiritueller Kompositionskunst
Dazwischen findet man Klassiker von Arvo Pärt, wie das bekannte “Da pacem Domine” (2004/2006). Den Auftakt des Albums bildet das titelgebende “The Deer’s Cry” (2007), ein melodisches, melancholisch fließendes Lied für gemischten Chor. Vox Clamantis arbeitet das sehnsüchtige Moment darin heraus. Es ist ein zehrendes Verlangen nach Trost und Zuversicht spürbar. Eine folkloristische Form von Spiritualität begegnet dem Hörer hingegen in dem erstmals aufgenommenen Gesang “Drei Hirtenkinder aus Fátima” (2014).
Das Werk klingt wie ein religiöses Volkslied mit trancehaften Momenten, die durch ein wellenartig einfallendes Hallelujah hervorgerufen werden. Dagegen ist das ebenfalls erstmals aufgenommene “Habitare fratres in unum” (2012) eher ein typischer Klostergesang. “Alleluia-Tropus” (2008/2010), das Vox Clamantis unter instrumentaler Begleitung bereits auf Pärts bekanntem Album “Adam’s Lament” sang, klingt in der a cappella-Fassung eigentümlich rein und aufs Wesentliche reduziert.
Das Album als Ganzes besticht durch die vielen unterschiedlichen Facetten, die an Pärts spiritueller Kompositionskunst sichtbar werden. Der Komponist war bei einem Großteil der Aufnahmen in Tallinns Verwandlungskirche mit dabei. “Arvos Hinweise sind stets sehr erhellend”, so Dirigent Jaan-Eik Tulve, “er sagt dem Interpreten nicht, wie er singen soll, sondern führt ihn mit geistigen Bildern in die Welt hinein, in der – oder aus der heraus – er sein Werk dargeboten sehen möchte.”