Wäre es nach seiner Befähigung gegangen, hätte er es im Orchester nur zur zweiten Geige gebracht, sagt Bernard Haitink. Er sieht seinen Aufstieg zu einem der führenden Dirigenten des 20. Jahrhunderts glücklicher Fügung geschuldet. „Ich war eine faule Sau. Nicht dumm, aber einfach desinteressiert“, bekannte er in einem Interview über seine Schulzeit. Er sagt, ein Gefühl der Reue für das einstige Müßiggängertum sei ihm später Ansporn gewesen. Der englischen Zeitung Guardian vertraute er an, er habe eine Theorie, die er kaum auszusprechen wage: Hätte sich die Tragödie des Zweiten Weltkriegs nicht ereignet, wäre er niemals Dirigent geworden. „Es hätte so viel mehr begabtere Talente gegeben als mich.“
Glück und Hartnäckigkeit
Bernard Haitinks Demut in Ehren. Aber natürlich hat der niederländische Dirigent wie alle, die es nach ganz oben schaffen, sein Schicksal rechtzeitig in die eigenen Hände genommen. Ursprünglich wollte er Geiger werden und während seines Studiums spielte er in verschiedenen Orchestern. Doch es zog ihn hinters Dirigentenpult. Dank seiner Hartnäckigkeit gelang es ihm 1954, einen Platz in einem Ferienkurs für Orchesterdirigieren zu ergattern, obwohl er als noch nicht examinierter Student die Zulassungskriterien nicht erfüllte. Jurymitglied Ferdinand Leitner förderte Haitink und besorgte ihm eine Stelle als Dirgierassistent. Wenig später wurde er Zweiter Dirigent des Niederländischen Radio-Orchesters. Typisch Haitink: „So war ich Dirigent, bevor ich überhaupt erkannte, Dirigent zu sein.“
Haitink und Concertgebouw
1959 wird er mit 30 Jahren Erster Dirigent des Concertgebouw Amsterdam, des bedeutendsten Orchesters der Niederlande. „Ich war viel zu jung. Es war schrecklich für mich und muss auch schlimm für das Orchester gewesen sein, denn ich war alles andere als großartig“, sagt Haitink im Rückblick. Er lernt in den ersten Jahren am Concertgebouw von seinem Orchester. Das prägt seine Arbeitsweise nachhaltig. Über seine Einstellung gegenüber den Musikern sagt er: „Du bist nicht da, sie zu kritisieren. Du musst ihnen Selbstvertrauen geben.“ Von 1961 bis 1988 bekleidet er das Amt des Chefdirigenten. In dieser Zeit etabliert er das Concertgebouw-Orchester fest in der Weltspitze.
Transparenz und Wärme
Sein motivierender Führungsstil findet auch im Ausland Anklang. Er wirkt als Erster Dirigent des London Philharmonic Orchestra (1967–1979) und als Musikdirektor am Royal Opera House (1987–2002), leitet das Glyndebourne Festival (1978–1988) und ist ein international gefragter Gastdirigent. Wenn Haitink die Berliner Philharmoniker dirigiert hat, ist das spürbar, sagt Sir Simon Rattle. Die Musiker spielen entspannter, räumlicher und ausdrucksstärker. Exemplarisch für Haitinks Klangideal sind die Aufnahmen mit dem Concertgebouw-Orchester und dem London Philharmonic Orchestra. „Transparenz, ein warmer Streicherklang, der nicht auf Kosten der Klarheit geht, wohl balanciertes Blech“, so beschreibt es der Dirigent. Als Meilensteine gelten seine Einspielungen der Wagner-Opern und der Symphonien Bruckners und Mahlers.
Sonderedition: Die Philips-Jahre
Das niederländische Label Philips dokumentierte über 30 Jahre lang die Zusammenarbeit Bernard Haitinks mit dem Concertgebouw-Orchester, dem London Philharmonic Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und Solisten wie Alfred Brendel, Arthur Grumiaux, Claudio Arrau und Stephen Bishop Kovacevich. Die Edition “Bernard Haitink: The Philips Years” bietet nun auf 20CDs die wichtigsten Aufnahmen des Dirigenten für das Label. Sie gibt Einblick in die ganze Bandbreite von Haitinks Schaffen, von symphonischen Werken Debussys, Haydns und Beethovens über Overtüren und Orchesterstücke aus Opern Mozarts und Wagners bis hin zu Klavier- und Violinkonzerten von Liszt und Tschaikowsky.
Bernard Haitink ist heute 84 Jahre alt. Erst vor wenigen Wochen gab er Meisterkurse für junge Dirigenten beim Lucerne Festival. Am 25. August tritt er beim Tanglewood Festival mit dem Boston Symphony Orchestra auf.