Die Tiefen der Archive sind noch lange nicht ergründet. Immer wieder fördern sie großartige Aufnahmen zutage, die verschollen oder vergessen waren. Die Reihe Classic Recitals hat sich darauf spezialisiert, herausragende Alben der frühen LP-Ära in das CD-Format zu übertragen, einschließlich des liebevoll reproduzierten Original-Covers. In die Frühjahrsrunde startet sie mit zwei Diven der Operngeschichte: Kathleen Ferrier und Birgit Nilsson
John Culshaw gehörte zu den Profis des Decca-Studio-Teams und erinnerte sich als Aufnahmeleiter mit großer Begeisterung an die Arbeit mit Kathleen Ferrier: “Kathleen Ferrier nahm die monophone Version der Händel- und Bach-Arien am 7. und 8.Oktober 1952 auf. Die Sessions fanden in der Kingsway Hall statt, von 14 Uhr bis 18:30 Uhr am 7. Oktober und von 14:30 Uhr an am 8.Oktober. Was damals keiner wissen konnte – es sollten ihre letzten Aufnahmen werden. Während des Nachmittagstermins am 8.Oktober kam ein Anruf aus dem Krankenhaus, wo sich Kathleen gerade einer laufenden Untersuchung unterzog. Ich habe sie niemals vorher mit leuchtenderen Augen gesehen als an diesem Tag, als sie nach ein paar Minuten auf die Bühne zurück kam.
‘Sie haben gesagt, alles sei in Ordnung’, meinte sie und fiel für ein paar Momenten in ihren Lancashire-Akzent zurück, was sie in besonders fröhlichen oder bewegenden Momenten immer tat. Wenige Minuten später sang sie ‘He Was despired’ [aus Händels ‘Messias’] mit einer Schönheit und Einfachheit, von der ich mir nicht vorstellen kann, dass sie jemals übertroffen werden kann. Am 8.Oktober 1953, genau ein Jahr danach, starb Kathleen Im Universitätskrankenhaus der Stadt nach schwerer Krankheit”. Und so ist dieses Recital mit jeweils vier Arien/Kantaten von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel, das im Nachhinein mit einigen Kunstgriffen in eine Stereo-Aufnahme verwandelt werden konnte, ein außergewöhnlich ergreifendes Dokument einer großen Sängerin, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere aus dem Leben gerissen wurden.
War Ferrier vor allem als Solo-Sängerin ein Begriff, so hatte sich Birgit Nilsson einen Namen als Operninterpretin mit dem Schwerpunkt Wagner gemacht. Für ihr Recital-Album von 1962 allerdings widmete sie sich einem anderen großen Opernkomponisten: Giuseppe Verdi. Die Aufnahmen entstanden im August 1962 in der Walthamstow Assembly Hall zusammen mit Chor und Orchester des Royal Opera Houses unter der Leitung von Argeo Quadri. Das Repertoire reichte von “Ambizioso Spirto…” aus Macbeth über “Ben io t’invenni…” aus Nabucco bis hin zu “O don fatale” aus Don Carlo und präsentierte eine charismatische, starke und wandelbare Stimme, die, Wagner-geschult, mühelos mit den dramatischen und lyrischen Passagen des Verdi-Repertoires glänzen konnte. Deutlich ist dem Programm anzuhören, dass Nilsson zum Zeitpunkt der Aufnahme sich an der Spitze ihrer vokalen Ausdruckskraft befand. Nicht umsonst reiste sie in den frühen Sechzigern von Opernhaus zu Opernhaus, von einem Erfolg zu nächsten. Nilsson Sings Verdi lässt einen Ausschnitt dieses Glanzes wieder erstehen und macht auch noch nach mehr als vier Jahrzehnten klar, warum die schwedische Sopranistin von vielen jungen Kolleginnen wie eine musikalische Lichtgestalt verehrt wurde.