Eine Gruppe walisischer Auswanderer schreibt im Jahr 1849 amerikanische Musikgeschichte. Sie hat sich im englischen Liverpool eingeschifft und den Atlantik überquert. Im Salt Lake Valley, dem entlegenen Siedlungsgebiet der Mormonen jenseits der Westgrenze der Vereinigten Staaten, wollen die Menschen ein neues Leben beginnen und ihren Glauben in Frieden und Freiheit ausüben. Die Bekehrten aus Wales schließen sich in Iowa einem Treck von Pionieren an, der 2.000 Kilometer weit Richtung Westen zieht. Sie führen typisch walische Sangeslust und ein reiches musikalisches Erbe mit sich. Ihr Gesang kündet vom Gelobten Land, spendet Trost in schweren Stunden, er ermutigt und erheitert die Reisenden.
Ikonischer Chor mit walisischen Wurzeln
Mit der Ankunft der walisischen Pioniere steigt das musikalische Niveau in Salt Lake City sprunghaft an. Pastor John Parry aus Newmarket in Nordwales, der musikalische Leiter der Gruppe, wird beauftragt, einen festen Chor zusammenzustellen, der die Zeremonien der Mormonen musikalisch begleiten soll. Aus dieser Keimzelle geht der Mormon Tabernacle Choir hervor. Heute ist der aus 360 ehrenamtlichen Mitgliedern bestehende Chor in den USA eine nationale Ikone. Er hat auf Weltausstellungen und zur Amtseinführung von sechs US-Präsidenten gesungen, Ronald Reagan nannte ihn den „Chor Amerikas“. Seit Juli 1929 wird die Musik des Chors jeden Sonntag in der Sendung “Music and the Spoken Word” ausgestrahlt und von zahlreichen Radio- und Fernsehsendern übertragen. Der Mormon Tabernacle Choir produzierte über 200 Platten- und CD-Einspielungen und erreichte mehrfach Gold- und Platinstatus.
Langjährige Freundschaft
Für den walisischen Opernsänger Bryn Terfel war es ein Traumprojekt, sein neues Album “Homeward Bound” mit dem legendären Chor aufzunehmen. Der international gefeierte Bassbariton ging für die Aufnahmen im Frühjahr 2013 auf große Reise von Wales nach Salt Lake City. Ein wenig muss sich Terfel dabei wie ein Heimkehrer gefühlt haben, denn er ist dem Chor und seinem Leiter Mack Wilberg seit Jahren eng verbunden. Schon mehrfach sang er beim traditionellen Weihnachtskonzert des Mormon Tabernacle Choir, und 2007 kam er zur Einweihung des renovierten Salt Lake Tabernacle, um in Mendelssohns “Elijah” mitzuwirken. Mack Wilberg, der Arrangements für Terfels Grammy-prämiertes Album “Simple Gifts” (2005) und dessen Weihnachtsalbum “Carols and Christmas Songs” schrieb, sagt: „Es ist immer ein besonderes Privileg, mit einem so phänomenal begabten und großzügigen Musiker wie Bryn zusammenzuarbeiten. Wir fühlen uns geehrt, ihn als Freund unseres Chors betrachten zu dürfen.“
Facettenreiches Album mit großen Themen
Dass es im Kreis dieser Freunde fast schon familiär zugeht, wie Bryn Terfel erklärt, erstaunt kaum. Mehr als die Hälfte aller Mitglieder des Mormon Tabernacle Choir hat Vorfahren in Wales. „Das ist einer der Gründe, warum ich so gern zurückgekommen bin“, sagt Terfel. „Ich kann es in ihren Augen sehen, wenn sie singen.“ Man lebt in Salt Lake City ein Stück der Geschichte seiner Heimat, und auf “Homeward Bound” unternimmt Bryn Terfel mit dem Chor eine musikalische Pilgerreise, die den historischen Weg der walisischen Mormonen teilnahmsvoll nachzeichnet.
Dabei war es Bryn Terfel wichtig, nicht ausschließlich religiöse Werke vorzustellen. So entstand ein äußerst facettenreiches Album, auf dem das Spiritual “When the Saints Go Marchin’ in”, das Traditional “Shenandoah” und der Folksong “Bound for the Promised Land” ebenso erklingen wie die Händel-Arie “Lascia ch’io pianga”, das “Libera me” aus Faurés Requiem, “Give Me My Song” von Ex-Abba-Mitglied Benny Andersson und Louis Armstrongs “What A Wonderful World”.
Die Stücke handeln von leidenschaftlichem Eifer, dem Wunsch nach spiritueller Führung, der erwartungsvollen Stimmung vor einem Neuanfang, nostalgischen Gefühlen, letzten Abschieden, dem Streben nach Freiheit und manchmal auch von schlichter Daseinsfreude. Mit ihren Sehnsüchten und Hoffnungen, das macht dieses Album wunderbar deutlich, sind die Immigranten von einst sehr nah bei uns. “Homeward Bound” bietet damit musikalischen Stoff für eine ganze Lebensreise.