Es gibt verschiedene Arten, der Musik auf den Grund zu gehen. Die einen Künstler wählen die Fülle, probieren möglichst viel aus, um im Heuhaufen des Angebots die Nadel des Genialen zu finden. Carlos Kleiber ging den entgegengesetzten Weg. Er beschränkte sich bewusst auf wenige Werke, die er im Laufe seiner Dirigentenlaufbahn immer wieder neu beleuchtete, erforschte, analysierte. Dazu gehörten etwa Brahms' zweite, Schuberts dritte, Beethovens fünfte Sinfonie, der “Tristan”, “La Traviata” und vermeintlich leichtere Muse wie die “Fledermaus” und der “Rosenkavalier”. Hie und da widmete er sich auch noch weiteren Stücken, wie etwa den Wiener Walzerklängen bei seinen Gastspielen als Maestro des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker 1989 und 1992. Im Kern aber war er der Opulenz und auch seiner eigenen Kompetenz gegenüber skeptisch, ganz im Gegensatz zu seinem Publikum, das die vor allem seit den achtziger Jahren raren Auftritte umjubelte. Da genügte es mitunter, dass das Gerücht die Runde machte, Carlos Kleiber würde dirigieren, und ein Konzertsaal war binnen weniger Stunden ausverkauft.
Carlos Kleiber galt vielen Zeitgenossen als Genie und doch war sein Lebenslauf alles andere als geradlinig. Als Sohn des österreichischen Dirigenten Erich Kleiber am 3. Juli 1930 in Berlin als Karl Ludwig geboren, musste er mit seiner Familie zwei Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen. Ihre neue Heimat wurde Buenos Aires und der kleine Carlos machte seine ersten prägenden musikalischen Erfahrungen im Gefolge des Vaters, den er zu Proben an das Teatro Colón begleitete. Er wurde privat unterrichtet, lernte unter anderem Klavier und Schlagwerk, hätte aber nach dem Willen seines Vaters Chemiker werden sollen. Stattdessen begann er in La Plata ebenfalls am Theater zu arbeiten, ein Chemie-Studium in Zürich brach er nach wenigen Monaten ab.
Im Jahr 1952 wagte Carlos Kleiber den Einstieg in das Musikerdasein und wirkte für kurze Zeit als Korrepetitor am Münchner Gärtnerplatztheater. Daraufhin ging er als Kapellmeister zunächst nach Potsdam, dann an die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf-Duisburg (1958–64), ans Opernhaus von Zürich (1964–66), fungierte als Kapellmeister am Stadttheater in Stuttgart (1966–68) und kehrte 1968 für fünf Jahre an die Bayerische Staatsoper in München zurück. Dem Haus blieb er im Anschluss daran als ständiger Gastdirigent verbunden, wirkte aber auch mit – allerdings seltenen – Gastspielen in Bayreuth, Wien, Stuttgart, Salzburg, Prag oder an der Scala in Mailand weiter. Als Gegner sinfonischer Routine wechselte er immer wieder die Ensembles, schwor sie während der gemeinsamen Arbeit auf eine besondere Aufmerksamkeit im Umgang mit den musikalischen Vorlagen ein.
Kleiber galt als ernster, ernsthafter Dirigent, der ungeheure emotionale, erhellende Momenten mit einem Orchester zu erzeugen verstand. Er mochte es nicht, wenn ihm Mikrophone zuhörten oder Kameras zusahen, ließ es aber dennoch zu, dass seine Arbeit gelegentlich auf Langspielplatte oder später auch CD festgehalten wurde. Zu seinen wichtigsten Stücken zählen die Aufnahmen der fünften und siebten Beethoven-Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern Mitte der Siebziger, von Brahms, speziell der vierten Sinfonie, die 1980 ebenfalls mit diesem Orchester entstand, aber auch die “Traviata” von 1977 aus der Münchner Staatsoper mit Ilena Cotrubas (Violetta) und Plácido Domingo (Alfredo).
So wie nahezu alle Aufnahmen von Carlos Kleiber als grundlegend gelten, so wurde auch der Maestro selbst mit vielen Preisen, darunter dem Ehrenpreis der Stadt München (1978), dem Orden Pour La Mérité (1990), dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1992) und dem Goldenen Taktstock der Mailänder Scala ausgezeichnet. In späten Jahren kaum noch auf der Bühne zu erleben. Carlos Kleiber starb am 13.Juli 2004 im Alter von 74 Jahren im slowenischen Ort Konjšica, der Heimat seiner im Jahr zuvor verstorbenen Ehefrau.