Carolin Widmann | News | Nicht-Konzert - Carolin Widmann spielt Morton Feldmans „Violin and Orchestra“

Nicht-Konzert – Carolin Widmann spielt Morton Feldmans „Violin and Orchestra“

Carolin Widmann
© Marco Borggreve
17.05.2013
In Abgrenzung zum strengen Formalismus der in der europäischen Avantgarde der 1950er Jahre tonangebenden seriellen Schule um Pierre Boulez sagte der US-amerikanische Komponist Morton Feldman einmal: „Boulez steht für all das, was ich mir für die Kunst nicht wünsche“. Denn dieser habe erklärt, er sei nicht daran interessiert wie ein Musikstück klinge, sondern allein daran, wie es gemacht ist. Zentrale Idee im Schaffen Feldmans war dagegen die Befreiung der Klänge von allen formal-logischen Zwängen, ihrer Vereinnahmung durch Systeme, Konstruktionen und außermusikalische Ideen. Seine Faszination galt dem reinen Klang.
Intuition als Methode
„Ich glaube, dass ich mich als Person dem Klang unterordne”, erklärte er. „Ich glaube, dass ich meinen Klängen zuhöre, und ich lasse mich dann von ihnen lenken; ich schreibe meinen Klängen nicht vor, wie sie zu wirken haben.“ Aufschlussreich in Bezug auf das intuitive Vorgehen Feldmans beim Komponieren ist eine Geschichte, die er gern erzählte: Marcel Duchamp besucht eine Kunstschule in San Francisco, wo er eines jungen Mannes gewahr wird, der wie von Sinnen seine Leinwand bemalt. Duchamp tritt zu ihm und fragt: „What are you doing?“, worauf der Maler entgegnet: „I don’t know what the fuck I’m doing!“ Daraufhin klopft Duchamp ihm anerkennend auf die Schulter: „Keep up the good work.“
Farben auf einer „Zeitleinwand“
Feldman verstand sich weniger als Komponist, denn als Orchestrator. „Obwohl meine Musik für viele Leute im Grunde immer gleich klingt, ist sie aufgrund wechselnder Orchestrierungen für mich sehr vielfältig. Mein kompositorisches Interesse liegt im Bereich der vertikalen Qualität und nicht darin, was sich innerhalb eines horizontalen Schemas ereignet.“ Das Notenblatt bezeichnete er einmal als „Zeitleinwand“, auf die er seine Klänge auftrage. Die klanglichen Vorgänge seiner Musik kennzeichnen eine eigentümliche Statik und eine eng umgrenzte Dynamik. Winzige, über lange Dauern ausgebreitete Variationen von Klangmodulen charakterisieren die Werke aus Feldmans später Schaffensphase, die von seiner Faszination für die fehlerbehafteten Symmetrien orientalischer Teppiche geprägt war.
Unausgeschöpftes Potential
Teil seines musikalischen Denkens sei eine Abneigung gegenüber Klängen, deren Quelle zu deutlich erkennbar ist, sagte Morton Feldman. Im Gegensatz zu vielen anderen Komponisten seiner Zeit hatte er jedoch wenig Interesse am Einsatz synthetischer Klangerzeuger. 1972 erklärte er gegenüber dem Autor Paul Griffiths: „Meine Stücke misslingen, wenn man sagen kann: ‚Ah, da ist eine Posaune, da ein Horn.‘“ Weil es kaum einem Interpreten gelinge, konsequent im Sinne dieses Klangideals zu spielen, sei die Verwendung herkömmlicher Instrumente für ihn nachwievor reizvoll.
Violinkonzert ohne Solostimme
Den besonderen Herausforderungen dieser Musik stellt sich Carolin Widmann in ihrer neuen Aufnahme mit dem hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Emilio Pomàrico. Für ECM New Series spielten sie „Violin and Orchestra“, Feldmans längstes Orchesterstück aus dem Jahr 1979, ein, das kein konventionelles Konzert sein will, sucht man doch in dem einsätzigen und fast einstündigen Werk melodische Linien, schillernde Kadenzen, Solostimme und Orchesterbegleitung vergebens. „Es ist sehr schön, was er klanglich und farblich aus der Geige herausholt. Aber es geht hier eben nicht mehr um ein Zurschaustellen von irgendwelchem Können“, erklärt Widmann. „Deshalb muss man sich als Interpret hier zurücknehmen und seine Ausdrucksmittel einzig und allein in den Dienst der Musik stellen – eine durchaus auch spirituelle Übung, bei der man alle Parameter, die man so draufhat als Geiger, von sich abschälen muss.“
Zeit ohne Beginn und Ende, Raum ohne woher und wohin
Morton Feldman habe eine ganz eigene musikalische Sprache gefunden, in der die Zeit still stehe, meint Carolin Widmann, die bereits zum zweiten Mal eines seiner Werke für ECM New Series aufgenommen hat und den Komponisten zu ihren Favoriten zählt. „Ich habe da wirklich das Empfinden einer ‚eingefrorenen Zeit‘ – seine Musik setzt mein Zeitempfinden außer Kraft und ich spüre beim Hören kaum mehr, ob nur fünf Minuten oder vielleicht eine halbe Ewigkeit vergangen sind. Und es taucht auch die Frage nach der räumlichen Dimension auf: Wenn man diese Musik hört, spürt man bald nicht mehr, wo sie herkommt und wo sie hingeht, man wird Teil von ihr.“

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