Carolin Widmann hat es sich nie leicht gemacht. Die 1976 in München geborene Geigerin beugte sich nicht den Regeln des Kulturbetriebs, sondern ging ihren eigenen Weg.
Intellekt und Gefühl: Carolin Widmann
Als sie im Alter von 24 Jahren am weltweit wichtigsten Geigenwettbewerb in Brüssel teilnimmt, da spielt sie ein schwieriges Werk von Luciano Berio und scheidet im Halbfinale aus. Ein Juror teilt ihr am Rande der Veranstaltung mit, dass ihre Chancen beträchtlich gestiegen wären, hätte sie etwas Gefälligeres dargeboten. Doch Caroline Widmann zweifelt nicht so sehr an ihrem Repertoire als an ihren künstlerischen Fähigkeiten. Ihr Anspruch an sich selbst ist immens, und es ist beinahe unmöglich, ihm zu genügen.
Andererseits ist die hohe Messlatte auch Ansporn und gründet in einer wahren Passion für die Musik. Widmann lässt nicht locker. Sie übt und studiert. Sie experimentiert und arbeitet sich leidenschaftlich begeistert in komplexes, modernes Repertoire ein, bis sie schließlich zu einem eigenen Stil findet und ein immer größeres Publikum generiert. Heute gilt sie als eine der eigensinnigsten und gebildetsten Geigerinnen der Gegenwart, die wie kaum jemand sonst Intellekt und Gefühl zu versöhnen weiß.
Schnörkellos schön: Romantische Modernität
Widmanns Spiel ist schnörkellos schön. Sie spielt, wenn überhaupt, dann ein diskretes Vibrato. Aufgesetzte, große Gesten sind ihr in der Musik zuwider. Sie liebt die Zwischentöne, schätzt aber auch extreme und grenzerprobende Klangwelten, die nicht unbedingt laut und bombastisch zu sein brauchen. Mit ihrem klar konturierten Ton und dem sparsamen Pathos ihrer Spielweise hat sie sich zeitgenössisches Repertoire erschlossen, und exakt so geht sie auch an romantische Geigenliteratur heran, die sie mit modernen Mitteln durchdringt.
Caroline Widmann befreit die romantische Geigenmusik von sentimentalen Schlacken und führt vor, wie modern, wie nah uns das 19. Jahrhundert ist. Das hat sie mit Schubert und Schumann mehrfach unter Beweis gestellt, und das bewährt sich auch in ihrem neuen Album, in dem sie unter der Begleitung des von ihr selbst geleiteten
Chamber Orchestra of Europe die Geigenkonzerte von
Felix Mendelssohn Bartholdy und
Robert Schumann interpretiert.
Feingliedrige Strukturen: Die Geigenkonzerte von Mendelssohn und Schumann
Ohne sich auch nur ansatzweise in den Vordergrund zu drängen, spielt sie mit ergreifender Ehrlichkeit und Direktheit die gefühlvolle Anfangsmelodie von Mendelssohns berühmtem Geigenkonzert in e-Moll (op. 64). Schon hier zeigt sich, wie gut sich ihre Spielweise eignet, um gefühlsstarke Literatur zu interpretieren. Denn Widmann fügt der Partitur keine unnötigen Extras hinzu. Es ist, als wolle sie sagen, dass in der Komposition bereits alles angelegt ist.
Die Klangschönheiten von Mendelssohn brauchen „nur“ freigelegt zu werden, und das Chamber Orchestra of Europe folgt Widmann in dem klar tönenden Stil. Zusammen dringen sie Schicht für Schicht in die feingliedrigen Klangstrukturen Mendelssohn Bartholdys ein. Wer jedoch befürchtet, die mitreißenden romantischen Überspanntheiten kämen bei dieser modernen und überaus präzisen Interpretationskunst zu kurz, der wird in Widmanns neuem Album eines Besseren belehrt.
Das Gegenteil ist der Fall: Widmanns ökonomische Spielweise ist darauf angelegt, musikalisches Pathos nicht frühzeitig zu verbrauchen, und ihre dramaturgischen Fähigkeiten erweisen sich in Schumanns Geigenkonzert in d-Moll (WoO 23) als unverzichtbar. Widmann, die sich intensiv in die seelische Haltlosigkeit Robert Schumanns eingefühlt hat, trifft den hochgespannten Ton des Zwickauer Komponisten, und das gelingt ihr, weil sie mit Geduld an das Werk herangeht und dessen Grenzen schrittweise und in einer Logik der Steigerung auslotet.