Cecilia Bartoli ist bekannt für ihre Entdeckernatur. Die fünffache Grammy-Preisträgerin, eine der populärsten Erscheinungen des zeitgenössischen Opernlebens, hat sich nie auf ihre Erfolgspartien versteift, sondern stets Ausschau nach vergessenem Repertoire gehalten: “Ich suchte immer die Balance zwischen dem Populären und dem Unbekannten”, so die große Sängerin, die seit 1988 bei Decca Classics unter Vertrag steht und dort zahlreiche Bestseller produziert hat.
Während der Pandemie sah sich die Bartoli nun genötigt, ihre geschäftige Lebensführung herunterzufahren und stilleren Tätigkeiten nachzugehen. Sie nutzte die Zeit, um sich den unvollendeten Projekten ihrer Laufbahn zu widmen: “Letztlich bekam ich die Chance, in meinem Aufnahme-Archiv nach verborgenen Schätzen zu suchen”, erinnert sich die Sängerin an die unverhofften Zeitressourcen, die ihr plötzlich zur Verfügung standen.
Bartolis emotionale Intensitäten
Unter den “lange verschollen geglaubten Freunden”, die bei der Recherche zum Vorschein kamen, betrachtete sie die 2013 mit dem
Kammerorchester Basel unter der Leitung von
Muhai Tang angefertigten Aufnahmen mit dramatischen Arien von
Joseph Haydn,
Ludwig van Beethoven,
Wolfgang Amadeus Mozart und
Josef Mysliveček als “besonders kostbar”. Auf ihrem neuen Album “
Unreleased”
präsentiert sie das Programm jetzt erstmals der Öffentlichkeit.
Das klassische Repertoire ist hervorragend geeignet, Cecilia Bartolis einzigartige Fähigkeit herauszufordern, mit langem Atem und höchster Konzentration emotionale Intensitäten zu erzeugen. Die auf dem Album versammelten Konzertarien verlangen indes nicht nur sängerische Bravour, sondern auch ein hohes Maß an dramatischer Ausdruckskraft. Die Arien wurden für charismatische Bühnenpersönlichkeiten verfasst, die den Komponisten lebhaft vor Augen standen. Welche expressiven Möglichkeiten sich hier auftun, demonstriert Bartoli gleich zu Beginn des Albums, wenn sie den Gefühlen der enttäuschten Liebhaberin in Beethovens berühmter Arie und Szene “Ah! perfido” (op. 65) mit leidenschaftlicher Inbrunst Ausdruck verleiht.
Populäres und Unbekanntes
Von erhabener Schönheit sind die Mozart-Arien, besonders “L’amerò, sarò costante” aus der Serenata “Il re pastore”, die Cecilia Bartoli an der Seite des von ihr verehrten russisch-israelischen Geigers Maxim Vengerov mit inniglicher Glut vorträgt. In Haydns “Scena di Berenice” beeindruckt das Einfühlungsvermögen der Sängerin. Den Ton der untröstlichen Berenice, die von Demetrios Abschied nehmen muss, vermag kaum jemand so gut zu treffen wie Cecilia Bartoli in ihrer ersten Studioaufnahme von Haydns Solokantate.
Bleibt der Hinweis auf die Rarität, ohne die ein Bartoli-Album nicht vollständig wäre: Auf “Unreleased” ist es Sestos feinfühlige Arie “Se mai senti spirarti sul volto” aus der Oper “La clemenza di Tito” von Josef Mysliveček, einem heute nahezu vergessenen, böhmischen Komponisten, mit dem Mozart befreundet war und dem der Wiener Klassiker Bewunderung zollte. Ein weiteres, imponierendes Beweisstück dafür, dass die Bartoli nicht nur eine große Sängerin ist, sondern auch eine begnadete Entdeckerin.