Cecilia Bartoli auf großer Entdeckungsfahrt. Und sie hat dabei sogleich die wundervollsten Trouvaillen gemacht.
Cecilia Bartolis »Vivaldi-Album«, ein Recital mit hochvirtuosen und hochempfindsamen Arien aus Vivaldis riesigem Opern-Fond, ist jedenfalls ein echter Coup. Ein Coup, der die Lösung bringt für ein merkwürdiges Rätsel, ein Paradox: Dass der Venezianer Antonio Vivaldi ein Bestseller-Komponist ist, der als Verfasser der »Vier Jahreszeiten« und anderer barocker Konzert-Hits weltweit bejubelt wird, als Opern-Dramatiker aber keineswegs den gleichen Ruhm genießt. Ja, auf den Bühnen bisher im Grunde der große Unbekannte geblieben ist.
Dabei hat er gerade auch als Opernkomponist Bedeutendes, zum Teil sogar Außergewöhnliches geschaffen. Ein Mann des dramatischen Furors, der großen, wegweisenden Stil- und Form-Innovationen sowie der raffinierten Nuancierungskünste. Alles andere jedenfalls als ein Vielschreiber, den ein Igor Strawinsky – wie vor ihm andere – glaubte, als Langeweiler diffamieren zu können. Schluss mit solchen Vorurteilen und Verdikten, beschied denn jetzt auch Italiens berühmte Mezzosopranistin Cecilia Bartoli, die ihre Bühnenkarriere bisher vor allem mit Mozart- und Rossini-Rollen glanzvoll bestückte. Jetzt aber mit derselben Verve für Vivaldi, den venezianischen Priester-Rotschopf (den berüchtigten »Prete rosso«), in den Ring stieg, um dessen endgültige Wiederauferstehung als Opern-Dramatiker mit dem Glanz ihrer Stimme und Persönlichkeit voranzutreiben. Bartoli pro Vivaldi: Zwei Namen – ein Programm. Ein Programm, das sich ihre Exklusiv-Firma Decca ebenfalls beglückt auf die Fahnen schrieb. Und ist ein schöneres Resultat denkbar als das am 25. Oktober erscheinende Album mit Vivaldi-Arien, das Cecilia Bartoli gemeinsam mit dem auf beflügelnde Authentizität bedachten italienischen Instrumental-Ensemble »Il Giardino Armonico« aufnahm?
Für den römischen Mezzo-Star war es ein Unternehmen, das zuerst einmal ihre Neugier und Forscherlust aufs Schönste stimulierte. Tagelang, so bekannte sie, habe sie sich in der Biblioteca Nazionale in Turin eingenistet, in der die grossen Vivaldi-Schätze, also auch die Opern-Manuskripte lagern. Vivaldi selbst hatte die Zahl seiner Opern bekanntlich mit stupenden 94 angegeben. Rund die Hälfte davon sind freilich nur – und die zum Teil fragmentarisch – auf uns gekommen. Mehr als genug, wie La Bartoli lachend erklärte, um wirklich alle bis ins Letzte durchzugehen und ihr umfangreiches Arien-Material auf seine spezielle Verwendbarkeit für ihre Stimme und ihr Aufnahme- und Konzertrepertoire abzuklopfen. Aber was sie fand bei ihren fröhlichen Turiner Recherchen, war aufregend und überraschend genug für sie: Arien von einer Farbpracht und vokalen Expressivität, die zudem mit Koloratur-Strecken bedacht waren, die in ihrer bezwingenden Weitläufigkeit und Brillanz selbst eine Koloratur-Expertin wie sie in reines Staunen versetzten.
»Fantastische Musik«, war ihre Bilanz. »Ich hatte bis dahin von Vivaldi vornehmlich geistliche Musik gesungen, Kantaten und Motetten. Kaum Opern. Mir war gar nicht bewusst, dass er so viele und so bedeutende Opern geschrieben hat. Natürlich möchte ich nur zu gerne Vivaldi auch einmal auf der Opernbühne singen, in einer richtigen Inszenierung.« Ein Appell an die internationalen Opernhäuser, der hoffentlich nicht unerwidert verhallt! Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind Vivaldis Opern nach dem schönen Revival der Endsiebziger Jahre praktisch wieder ins Vergessen gesunken. In des Komponisten Heimatland Italien, beklagt La Bartoli, zwängen sich die Opernhäuser ohnehin in ein beklemmend enges Repertoire-Korsett, das kaum Experimente zulässt. »Da ist man in Frankreich, England und vor allem auch in Deutschland weitaus aufgeschlossener,« resümiert die Sängerin mit einem deutlichen Blick auf Berlin und René Jacobs vielbewunderte Barock-Projekte an der Lindenoper.
Was sind ihre Favoriten unter Vivaldis Opern, die sie denn auch voller Stolz und Genugtuung auf ihrem Album präsentiert? Sie nennt vor allem »Giustino«, »Griselda«, aber auch »La Fida Ninfa«, Vivaldis erste Oper für Verona, die er 1732 zur Einweihung des von Francesco Bibiena entworfenen, prunkvollen Teatro Filarmonico von Verona schrieb. Ein bukolisches Werk, aus dem sie nicht nur die bewegend schlichte Klage »Dite oime« singt, sondern mit ebensolcher Inbrunst und sängerischen Bravour auch das grandiose, tragisch gestimmte »Alma opressa« aus dem ersten Akt, das mit seiner schmerzgeladene Geste dem blendenden Schein barocker Schock-Ästhetik verpflichtet ist. Einzigartig auch, wie sie die wunderbare Schattenarie »Gelido in ogni vena« aus dem »Farnace« präsentiert, die in ihrem exquisiten Arien-Bouquet an tiefsinnigem Affektreichtum nur noch übertroffen wird von dem »Ho nel petto un cor si forte« aus »Il Giustino«.
»In meiner Brust schlägt ein so starkes Herz …«: Zu extravaganter Psalterium-Begleitung lässt Vivaldi seinen Titelhelden gegen das Schicksal trotzen. Heroismus pur, durch einen feinen Filter gepresst! Das ist nur eine der vielen eigenwilligen instrumentatorischen Effekte, wie sie der Venezianer eben nicht nur für seine populären Concerti, sondern ebenso für seine Opern erfand. So setzte er für die Arie »Di due rai languire costante« zwei Flageoletts ein, kleine, fast schmerzend hell klingende Blockflöten, die in unentwegten Sechzehntel-Bewegungen den ambivalenten Zustand von Liebespein und Liebesglück spiegeln. In der Erfindung betörender musikalischer Klang- und Charakterbilder sowie hochpoetischer Naturstimmungen war »il prete rosso« ein Meister. Nicht ohne Grund hat er auf Johann Sebastian Bach – und viele andere Komponisten – einen so nachhaltigen Einfluss gehabt.
Für ihr »Vivaldi-Album« hat sich die Sängerin übrigens auch Kastratenarien einverleibt wie das »Anch' il mar par che sommerga« aus dem »Bajazet«. Sie fand sie allein schon von der Tessitura für ihre Stimme bestens geeignet, wenn sie für sie als Frau auch mit besonderen Anstrengungen verbunden war. Für die bis über vier oder gar fünf Takte sich erstreckenden Koloratur-Passagen bedarf es im Grunde der stärkeren Atemkraft eines Mannes. Die hochexpressive Koloratur-Spannung über einen solchen weiten Zeitraum zu halten, war für sie also eine echte Herausforderung, die sie jedoch glänzend bewältigt.
Auffallend ohnehin, wie Cecilia Bartolis Stimme an Volumen, Farb-Schattierung und Ausdrucksglut hinzugewonnen hat. Das Vivaldi-Album ist dafür ein imponierender Beweis. Beleg auch dafür, dass sie mit Vivaldis einstiger Favorit-Sängerin Anna Girò ohne weiteres konkurrieren kann, der man – bei offenbar keineswegs großer und ausgemacht schöner Stimme – enorme sing-darstellerische Fähigkeiten attestierte. Bartoli: »Eine Sängerin mit einer sehr starken Persönlichkeit!«, hinter der sich die leidenschaftliche Römerin aber wahrlich nicht verstecken muss.
Mit dem »Giardino Armonico« hat sie zudem Partner zur Seite, die eine ausgesuchte Sensibilität gerade für Vivaldi zeigen. »Für eine solche Aufnahme braucht man«, so die Bartoli, »eine Gruppe, die dieselbe musikalische Sprache spricht.« Kein Wunder, dass sie mit ihren Landsleuten nun auch auf eine ausgedehnte Vivaldi-Tournee durch Deutschland geht. »Wir wollen den Menschen zeigen, was das für eine herrliche Musik ist, die Vivaldi geschrieben hat.« Ihre exzeptionelle Sangeskunst wird »Il Giardino« dabei mit ausgewählten Instrumental-Sätzen aus Vivaldis Opernarieren ergänzen, deren Motive nicht selten aufs Schönste miteinander korrespondieren oder sogar Erinnerungen an »Jahreszeiten«-Frühling oder -Winter wecken. Eine Entdeckungsfahrt also auch für ihr Publikum. Die Tournee beginnt am 6. Dezember in Düsseldorf.