Obwohl Johannes Brahms unzweifelhaft dem romantischen Zeitalter angehört, sagt man ihm “klassische” Tendenzen nach. Brahms zählte nicht zu den Romantikern, die um jeden Preis Avantgarde sein wollten. Obwohl von wilden musikalischen Einfällen und leidenschaftlichen Gefühlen heimgesucht, wusste der poetisch an exzentrischen Schriftstellern wie Jean Paul und E.T.A. Hoffmann geschulte Ausnahmekünstler, was er seinen musikalischen Vorgängern zu verdanken hat. Er strebte an, auf die Höhe Beethovens zu kommen, und nur wenige Komponisten haben dieses Ziel so klar erreicht wie Brahms.
Sinfonische Klavierkonzerte
Auf die Höhe Beethovens zu kommen – das hieß, Formstrenge und leidenschaftlichen Ausdruck miteinander zu verbinden, so wie dies schon sein großer Lehrer Robert Schumann vorgeführt hatte. Und für das Genre des Klavierkonzerts bedeutete dies, sich nicht von der Versuchung des Virtuosentums verführen zu lassen. Brahms ließ sich nicht verführen. Er stellte das Klavier vollkommen in den Dienst der musikalischen Poesie. Worum es ihm ging, war nicht die Fingerfertigkeit des Solisten, sondern die poetische Möglichkeit des Klaviers im Zusammenspiel mit den sinfonischen Potenzen des Orchesters.
Reifer Ausdruck
Das Klavierkonzert Nr. 2 in B-Dur, das sich seit seiner Uraufführung in Budapest im Jahre 1881 (mit Brahms selbst am Klavier) beim Publikum und bei der Kritik einer nahezu ungebrochenen Beliebtheit erfreut, folgt ganz der poetischen Maxime. Komponiert in den Jahren 1878–1881, gegen Ende der mittleren Schaffensperiode des Meisters, stellt es den Inbegriff kompositorischer Reife dar. Brahms hat die empfindsamen, markanten und formstrengen Elemente seiner Künstlerpersönlichkeit allesamt in das Konzert mit einfließen lassen und zu einem klanglichen Ganzen geformt. Und die Kritik gab ihm Recht: Er hatte sein höchstes Ziel, die Verbindung von Klassizität und romantischem Ausdruck, erreicht.
Souveräne Interpreten
Wie hoch muss aber dann die Messlatte für seine Interpreten sein, das Werk dort, wo Brahms selbst es zwei Mal spielte, wieder zur Aufführung zu bringen und es mit der poetischen Grazie und exzentrischen Leidenschaft auszustatten, die es verdient? Für Christian Thielemann, Maurizio Pollini und die Staatskapelle Dresden scheint das eher eine sportive Herausforderung als ein übermäßiger Anspruch gewesen zu sein, denn die Live-Aufnahme aus der Semperoper, die jetzt bei Deutsche Grammophon vorliegt, führt uns das Werk in einer staunenswert unaufgeregten, detailfreudigen und poetischen Leichtigkeit vor, die in dieser Form einzigartig sein dürfte.
Keinerlei Ablenkung
Was diese ungewöhnliche Konzentriertheit leistet, ist dabei kaum zu unterschätzen: Der Hörer wird vollkommen in das musikalische Geschehen hineingezogen. Es gibt keinerlei Ablenkung. Entfaltet wird die pure Essenz des musikalischen Materials. Es herrscht eine Stimmung vollkommener Verdichtung, die einem schier den Atem verschlägt. Das schwerblütige Element bei Brahms wird, ohne dass das Pathos dabei verloren ginge, um eine leichte Eleganz ergänzt, die man so aus Brahms-Interpretationen nicht kennt. Es scheint, als sei den Interpreten im Medium ihrer Brahms-Treue ein ähnlicher Geniestreich gelungen wie dem Meister selbst: etwas Neuartiges zu schaffen, ohne dies mutwillig zu erzwingen.
Das fließende Schöne
Ob in dem sanften, fast scheuen Hauptthema des Kopfsatzes, das immer wieder von vollgriffigen Klavierakkorden unterbrochen wird, die wie Stauungen des fließenden Schönen wirken, zu dem der erste Satz dann aber stets wieder zurückfindet. Ob in dem leidenschaftlichen Ausbruch des zweiten Satzes, der berührenden Melodiösität des dritten Satzes und den kraftvollen Steigerungen des Orchesters im ausklingenden vierten Satz. Stets gelingt es Thielemann und Pollini, die Schwebe zu halten. Thielemann koordiniert klug Orchester und Klavier, und Pollini spielt die für Brahms so typischen vollgriffigen Akkorde mit einer solchen Perfektion und inneren Ausgewogenheit, dass die darin verborgenen Melodien überhaupt nicht in Gefahr geraten, im Lärm des Akkordgetöses unterzugehen. Und genau das erzeugt die viel beschworene Klassizität, die Betonung der poetischen Schönheit, die von dem Wahn der leidenschaftlichen Ausbrüche nicht überwölbt werden darf, sondern allenfalls kontrastiert.
Im Herbst auch als DVD
Die Einflechtung des Soloinstruments in den sinfonischen Stoff ist dabei mehr als nur eine musikalische Neuerung: Sie ist ein Symbol. Das Ego des Solisten hat sich in den poetischen Prozess einzufügen, und wie tief Maurizio Pollini diese Idee beherzigt hat, zeigt nicht nur sein unvergleichliches Spiel, sondern auch seine berührende Geste am Ende des Konzerts. Beim Applaus wies er immer wieder auf das Orchester. „Eine rare Geste bei Solisten“, wie die Dresdner Neuesten Nachrichten schwärmten.
Apropos “rare Geste”, nach dieser großartigen CD, auf die kein Romantiker verzichten sollte, erscheint diesen Herbst im Rahmen der Thielemann/Brahms/CD+DVD-Edition auch eine Videoaufzeichnung des Konzerts, auf der man Thielemann und Pollini dann auch visuell bewundern kann.