Mit
Claudio Arrau verstarb 1991 einer der letzten Vertreter einer Generation von Klaviervirtuosen, die in der direkten Ahnenfolge von
Franz Liszt stehen. Der 1903 in der entlegenen chilenischen Stadt Chillán geborene Pianist wurde als Wunderkind gefeiert und erhielt im Alter von acht Jahren vom chilenischen Kongress ein Stipendium, das ihm ermöglichte, nach Berlin zu gehen. Zum einzigen Lehrer und Vaterersatz wurde ihm dort der gestrenge Klavierpädagoge Martin Krause, der einst selbst Lieblingsschüler Liszts gewesen war.
Mit der Kraft des ZenVon Krause übernahm Arrau eine leidenschaftliche Vorliebe für das
Legatospiel, eine gesangliche Phrasierungskunst, die zu seinem Markenzeichen werden sollte. “Wenn jemand nicht imstande war, ein Cantabile hervorzubringen, ließ Krause ihn die betreffende Passage singen und dann auf dem Klavier nachspielen, was er gesungen hatte. Ich selbst mache es auch so, wenn ich etwas einstudiere und eine Stelle nicht ganz verstehe.” Mit seinen prankenartigen Händen – Arrau konnte mit dem Zeigefinder und Daumen ohne weiteres eine Oktave greifen – entlockte er dem Klavier einen wunderbar vollen Ton von fast orgelartiger Klangfülle. Als Geheimnis seines Spiels betrachtete er die Verbindung von
emotionaler Intensität und
körperlicher Entspannung. Bezeichnenderweise empfahl Arrau seinen Schülern das Buch “Zen in der Kunst des Bogenschießens”.
Synthese aus zwei WeltenIn seinem Klavierspiel verwirklichte der reife Claudio Arrau eine
Synthese aus größtmöglicher
Werktreue im Geist der Neuen Sachlichkeit, zu deren Protagonisten der Pianist Arthur Schnabel und die Dirigenten Otto Klemperer und Felix Weingartner zählten, und der
rauschhaften Hingabe eines Wilhelm Furtwängler oder Edwin Fischer. Über den Stil Arraus schrieb der ebenfalls in Chile geborene
Daniel Barenboim einmal: “Die Ahnentafel seiner Lehrer reicht zurück bis zu Franz Liszt. Da ist also das Erbe der großen, subjektiven, virtuosen Interpreten noch lebendig. Auf der anderen Seite hat Arrau auch die besten Seiten des modernen Klavierstils übernommen: das absolut texttreue Spiel, das sich nie über den Komponisten hinwegsetzt … Das eben kombiniert Arrau wie kein anderer, indem er die besten Aspekte dieser beiden Welten vereint.”
Universalist aus Überzeugung Arrau galt als
Universalpianist mit ungewöhnlich breitem Repertoire, zu dessen Schwerpunkten Liszt, Chopin und Schumann ebenso zählten, wie die Musik Bachs und Beethovens. Zudem spielte er Debussy, Ravel und Schoenberg und interessierte sich noch im hohen Alter für die Neuerungen der musikalischen Avantgarde. Sich selbst verstand er als dezidierten Anti-Spezialisten: “Die Leute meinen, ein Interpret könne nur Sachen gut spielen, die ihm wesensverwandt sind. Dabei ist es genau umgekehrt. Ein wahrer Interpret ist jemand, der sich in etwas verwandeln kann, was er nicht ist. Sonst wäre das wie bei einem Schauspieler, der immer nur sich selbst spielt.” Arrau – überzeugt, ein Komponist könne nur aus der Kenntnis seines gesamten Oeuvres heraus verstanden und interpretiert werden – spielte im Lauf seines Lebens eine Reihe von
Zyklen der Werke Bachs, Beethovens und Mozarts ein. Überdies führte er fast alle Klavierwerke von Debussy, Ravel, Schumann, Chopin und Brahms auf.
In der
Reihe Eloquenz erscheint nun in einer
6 CDs umfassenden Box seine zwischen 1983 und 1988 entstandene
Gesamteinspielung der Klaviersonaten Mozarts.