Als sich im Anschluss an die Säkularisierung die Klosterbibliotheken öffneten, kam manches zum Vorschein, was seit Angedenken in den hinteren Winkeln der mönchischen Refugien geschlummert hatte. Im bayerischen Benediktbeuern zum Beispiel fand sich unter den vielen Folianten der Bibliothek eine abstrus zusammengestellte Sammlung mittelalterlicher Texte, die der Germanist Johann Andreas Schmeller unter dem Titel
„Carmina Burana“ („Gesänge aus Benediktbeuern“) zusammenstellte. Da waren spirituelle Texte darunter, aber ebenso derbe Verse in Mittellatein und sogar Mundartiges aus dem bajuwarischen. Der junge
Carl Orff (1895–1982) bekam diese Sammlung in die Finger und war begeistert. Er stellte sie nach Themenkomplexen für seine Zwecke zusammen – Natur, Wein, Liebe, Schicksal – und komponierte sein eigenes imaginäres Mittelalter drum herum. In Frankfurt wurden diese „Carmina Burana“ 1937 von Oskar Waelterlin uraufgeführt und seitdem gehören sie zu den markantesten Kompositionen des vergangenen Jahrhunderts. Denn auf der einen Seite legte Orff Wert auf Einfachheit, Burleske, auf der anderen waren seine Hymnen, Lieder und Tänze sorgfältig austarierte Meisterwerke der musikdramaturgischen Spannungslenkung. Besonders der Eingangs- und Schlusschor „O Fortuna!“ wurde von der Klassikwelt entdeckt und sogar des öfteren von der Werbung ausgeliehen.
Für den Dirigenten
Daniel Harding liegt der Charme der „Carmina Burana“ gerade in dieser Doppelnatur der anspruchsvollen und populären Deutbarkeit. „Orff hat Mittelalter und Moderne in einer künstlichen Musiksprache miteinander vereint“; meint Harding in einem Interview zu der Neuaufnahme der „Carmina Burana“ und ergänzt: „Die Orchesterbehandlung und der Umgang mit dem Rhythmus verweisen eindeutig auf das 20.Jahrhundert, aber zugleich versucht Orff mit aller Kraft, den Eindruck von sehr viel älterer Musik hervorzurufen. Und die Menschen haben eine große Schwäche für Dinge, die weit in die Vergangenheit zurückreichen, für Rituale, wobei ihnen häufig die eigentlichen Ursprünge egal sind. Das verleiht Autorität. Diese Autorität wird von Orff mit einer modernen musikalischen Sprache verknüpft, die heutige Hörer viel leichter verstehen als die originale Musik des Mittelalters. Ihre Wirkung hat bis heute nichts an Kraft verloren, und mag man auch viel darüber diskutieren – das tut der Kraft dieser Musik keine Abbruch“.
Es heißt außerdem, dass es auch für einen Dirigenten von Weltformat wie Daniel Harding ein Vergnügen ist, das monumentale Werk zu leiten. Für seine Aufnahme, die im vergangenen April in der
Münchner Philharmonie entstand, hatte er ein ausgezeichnetes Team an seiner Seite, die seinen Vorstellung von Pathos und Differenziertheit die passende Form gaben. Solisten wie die Sopranistin
Patricia Petibon und der Bariton
Christian Gerhaher gehörten dazu, außerdem das Symphonieorchester und der Chor des Bayerischen Rundfunks und für die hohen Stimmen der Tölzer Knabenchor. Es war ein Heimspiel für Orffs Meisterwerk und wurde zugleich eine Einspielung, die die Kraft und den Witz des mystischen Schelmenstücks mustergültig umsetzt.
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