An einer Stelle der handschriftlichen Partitur hatte der Komponist einen ungewöhnlicher Vermerk angebracht: “Erbarmen!” Biographen gehen anhand solcher Hinweise davon aus, dass Gustav Mahler hier vor allem mit der Verwirrung der Gefühle kämpfte, die ihn befiel, als er von der Affäre seiner Frau Alma mit der Architekten Walter Gropius erfuhr. Doch die Musik des unvollendeten Werkes zeugt von weit größeren Irritationen. Offenbar befand sich Mahler kurz vor seinem Tod an einem Punkt, wo er überhaupt mit den bisherigen Gesetzmäßigkeiten der Orchestersprache abzuschließen begann. Für
Daniel Harding jedenfalls ist die Rekonstruktion der 10. Sinfonie ein Experiment mit großem Überraschungspotential, das er gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern genussvoll auskostet.
Gustav Mahlers 10. Sinfonie wurde nie verwirklicht. Es gab Pläne der Komponisten, sie fünfsätzig als “Dante- oder Infernosinfonie” zu konzipieren, letztendlich entstanden aber 1910 nur das “Adagio in Fis-Dur” und einige Skizzen zu einem Scherzo. Durch die ausgeprägte Chromatik ist eine eindeutige tonale Einordnung des Adagios nur schwer möglich, herbe Dissonanzen prägen das Bild, so dass die Mahlerforschung in der Regel davon ausging, darin ein Abwenden des Komponisten kurz vor seinem Tod von den Ärgernissen dieser Welt zu sehen. Uraufgeführt wurde das “Adagio” erst 1924 unter der Leitung von Franz Schalk, spätere Bearbeitungen und Fortsetzungen der 10. Sinfonie zunächst von Ernst Krenek, aber auch von Deryck Cooke sind in der Musikwissenschaft umstritten, wenn sich auch inzwischen eine deutliche Parteinahme für die spätere Vervollständigung beobachten lässt. Cooke scheint gute Arbeit geleistet zu haben, besser, als die frühen Kritiker feststellen wollten. “Immer wenn jemand ein Detail in Frage stellt, das merkwürdig oder falsch klingt, stellt sich heraus, dass es von Mahler selbst stammt”, beschreibt Daniel Harding seine Erfahrungen mit der Zehnten. “Die Passagen, die wir ohne weiteres akzeptieren, sind in der Regel solche, die Cooke ergänzen musste”.
Der Schluss, der sich aus solchen Beobachtungen ergibt, ist durchaus kühn. Wenn Gustav Mahler sich vor allem auf die Ausweitung des orchestralen Materials konzentriert und die Überleitungen vorerst ausgelassen hatte, dann war er tatsächlich auf der Suche nach einer unerhörten Tonsprache, die sich in eben diesen, das Wesentliche skizzierenden Fragmenten verdichtete. Für den 32jährigen Dirigenten aus Oxford – ausgebildet von Sir Simon Rattle und Claudio Abbado und inzwischen nicht nur als Musikdirektor des Symphonieorchesters des Schwedischen Rundfunks international profiliert – war die Arbeit mit dem rätselhaften Werk ein Abenteuer der Erforschung kompositorischer Urgründe. Möglich wurde das durch seine eigenen Kompetenzen, aber auch durch das beste Orchester, das für diesen Zweck zu wünschen war.
Denn die Wiener Philharmoniker haben das besondere Etwas, das Harding mit Blick auf die Sätze zwei und vier folgendermaßen beschreibt: “Man hört sofort, dass es österreichische Tanzmusik ist. Der zweite Satz kann leicht etwas trocken wirken, wie ein Übung in Rhythmus und Kontrapunkt. Aber wenn die Wiener Philharmoniker sich dieser Rhythmen annehmen, kommt das natürliche Rubato zum Vorschein. Ähnliches gilt im vierten Satz für den ungezügelten, rauschhaften Walzer, dessen musikalische Tradition unverkennbar ist. Es ist ein entscheidender Augenblick in der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte des Werks, dass diese beiden Sätze, die voller österreichischer Tanzelemente, Anklänge und Parodien sind (abwechselnd nostalgisch, elegant oder ironisch) erstmals von dem Orchester gespielt werden, das wie kein anderes diese Tänze und Rhythmen im Blut hat”.
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