Jedes Land hat seine eigene Klangsprache. Volksmusik erwächst aus jahrhundertealten Traditionen des Singens, Musizierens und Erzählens.
Globales Zeitalter: Wiederentdeckung des Folk
Unter globalen Voraussetzungen sind solche Traditionsbestände nicht einfach aufrechtzuerhalten. Der Reiz des Neuen nimmt unsere Aufmerksamkeit in Beschlag und erhält von überallher neue Nahrung. Die Überlieferung der einzigartigen Kulturen droht zu verblassen. Ihre Musik verklingt, wenn sie schließlich nurmehr gelehrt und nicht mehr praktiziert wird. Doch was in weiten Teilen der westlichen Hemisphäre bereits Normalität ist, setzt sich an anderen Orten nicht durch oder löst dort kräftige Gegenbewegungen aus.
Ein legendäres Beispiel für Kontinuität: der irische Folk, der sich in einer lebendigen Sing- und Kneipenkultur von Generation zu Generation fortzeugt. Andernorts sieht man zarte Knospen der Wiederentdeckung sprießen. In Skandinavien haben Größen wie das schwedische Trio Mediæval oder das Danish String Quartet vielbeachtete Beiträge zur Renaissance nordischer Folklore geleistet. Was diese Ensembles eint, ist, dass sie das Erbe ihrer Musiktradition tief in sich spüren und in die moderne Zeit hinüberretten wollen.
Atem der Tradition: Das Danish String Quartet
Bekanntgeworden als Streicherensemble, das klassische und zeitgenössische Quartett-Literatur mit fiebriger Gespanntheit zu interpretieren weiß, hat das Danish String Quartet mit “Wood Works” auch auf dem Gebiet des Folk schon einen entscheidenden Akzent setzen können. Das Album erschien 2014 beim dänischen Klassiklabel Dacapo Records. Jetzt führt das Ensemble sein Folk-Projekt beim Münchener Label ECM New Series fort und legt mit “Last Leaf” ein Album vor, das erneut ganz der nordischen Folklore gewidmet ist.
Das Spektrum reicht von mittelalterlichen Balladen über Begräbnischoräle und Weihnachtslieder bis hin zu Schifferliedern und Tänzen aller Art. Zusammengehalten wird dieser bunte Strauß nordischer Klanggewächse von dem geschliffen klaren, überaus selbstbewusst und frisch anmutenden Ton des Danish String Quartet. Dabei zeugt die Souveränität, der natürliche Charakter ihres Spiels von einer tiefen Vertrautheit mit dem musikalischen Material.
Moderne Arrangements: Folk im 21. Jahrhundert
Dennoch ist das neue Album des Danish String Quartet alles andere als bloße Traditionspflege. Die eigenwilligen Arrangements des Ensembles zeigen, dass die vier Dänen auf persönliche Ideen hinauswollen, die sie mit dem Fundus der Überlieferung speisen. Besonders innovativ: die Miniaturen des versierten Cellisten und Bassisten Fredrik Sjölin.
Stücke wie “Shore” oder “Intermezzo” entwickeln eine ureigene Tonsprache, die sich folkloristischer Stilelemente bedient, um eine minimalistische, bisweilen meditative Klangatmosphäre zu erzeugen. Dass sich der komponierende Cellist auch auf einfache, unmittelbar zu Herzen gehende Melodien versteht, beweist “Naja’s Waltz”, der wie ein altvertrautes Traditional klingt, in Wahrheit aber von Sjölin selbst komponiert ist.
Zu den Höhepunkten von “Last Leaf” gehört freilich der melancholisch fließende, lutherische Begräbnischoral, der den Auftakt des Albums bildet und im abschließenden Weihnachtslied “Die lieblichste Rose wir fanden” (1732) überraschend wiederkehrt. Dass H. A. Brorson für sein Weihnachtslied auf Trauermusik zurückgriff, mag bizarr erscheinen, erschießt sich jedoch beim Hören. Außerdem liegen Geburt und Schmerz bekanntlich nah beieinander.