Kein “Instrument” ist so eng mit dem Seelenleben verwoben wie die menschliche Stimme. Deshalb bekommt man, wenn man unterschiedliche Stimmen hört, stets auch unterschiedliche Möglichkeiten des seelischen Ausdrucks vorgeführt. Bei Sopranistinnen wie Janine Micheau, Jennifer Vyvyan und Pilar Lorengar wird man auf ergreifende Weise mit weiblichen Nuancen des Ausdrucks konfrontiert. Die Gefühlsreife ihrer Kunst, die jetzt dank der CD-Edition ihrer klassischen Alben auf höchstem klanglichen Niveau erlebt werden kann, nötigt dem heutigen Hörer die allergrößte Bewunderung ab.
Lyrischer Charme: Janine Micheau (1914–1976)
Janine Micheau war eine lyrische Sopranistin. Geboren und aufgewachsen in Toulouse, studierte sie Gesang am Pariser Konservatorium. In Frankreich entwickelte sie sich zu einer der gefragtesten Persönlichkeiten ihres Faches. Nach dem Krieg weitete sie ihre Karriere international aus und sang weltweit an den angesehensten Häusern. Zu ihren wichtigsten Rollen zählten Leila in Bizets Oper “Les pêcheurs de perles”, Olympia in Offenbachs “Les contes d’Hoffmann” und Juliette in Gounods “Roméo et Juliette”. Wenn man Micheau jetzt die wunderbaren Arien aus diesen und anderen Opern singen hört, dann tritt einem eine anrührende Verspieltheit und weibliche Sicherheit entgegen. In Juliettes “Ah, je veux vivre” zeigt sich Micheau ganz von ihrer verträumten Seite, als Meisterin eines schwebenden Tons und kolorierender Passagen. Dagegen bringt etwa Leilas “Me voilà seule dans la nuit” ein einsames inneres Schwanken zum Ausdruck, das Micheau nicht minder meisterlich hervorzuzaubern versteht. Aber ob melancholisch oder fröhlich, in allen Arien der jetzt erschienenen CD strömt Janine Micheau eine menschliche Wärme aus, die glücklich stimmt.
Dramatisch und engelhaft: Jennifer Vyvyan (1925–1974)
Jennifer Vyvyan war eine britische Sopranistin, die sowohl durch dramatische Meisterschaft als auch durch Koloraturbegabung auf sich aufmerksam machte. Sie studierte Gesang an der Royal Academy of Music in London und stieg in der Folge zu einer international renommierten Opern- und Oratoriensängerin auf. Sie brillierte unter anderem als Konstanze in Mozarts “Entführung aus dem Serail” und als Tytania in Benjamin Brittens “A Midsummer Night’s Dream”. Durch die Flexibilität ihrer Stimme und ihren unverwechselbar reinen Ton avancierte sie zu einer der herausragendsten Interpretinnen Purcells und Händels. Auf ihrem jetzt erschienenen Decca-Album singt sie mit scheinbar müheloser Leichtigkeit Konzertarien von Haydn und Mozart, dazu einige religiöse Arien. In Haydns Konzertarie “Berenice, che fai?” demonstriert sie eindrucksvoll ihre dramatische und kolorierende Doppelbegabung. Ihre Verzierungen wirken natürlich und leicht. Sie versäumt es aber auch nicht, der Verzweiflung darüber, dass sich der Geliebte das Leben nehmen möchte, dramatisch Ausdruck zu verleihen. Fast engelhaft singt sie hingegen “Laudamus Te” aus Haydns Cäcilienmesse. Das gilt auch für die tröstlich anmutenden Canzonetten von Johann Christian Bach, die sie im Duett mit Elsie Morison wie ein Engel singt. Diese 6 Perlen sind der CD als Bonus-Tracks beigefügt. Im Ganzen ein Album, das durch seine Mischung aus weltlich-dramatischem und religiös-verklärtem Gesang einen unwiderstehlichen Reiz ausübt.
Eine ewige Stimme: Pilar Lorengar (1928–1996)
Sie bekam eines der schönsten Komplimente, das man einer Sängerin überhaupt machen kann. Kein Geringerer als der legendäre Dietrich Fischer-Dieskau, mit dem sie oft zusammen auf der Bühne stand, bescheinigte ihr: “Diese Stimme habe ich gekannt, bevor ich sie hörte. Sie holte mich ein mit ihrem Goldstrahl, weil es ein Mensch ist, der aus ihr singt.” Pilar Lorengar war eine spanische Sopranistin, die an der Deutschen Oper in Berlin Furore machte. Obgleich sie weltweit an nahezu allen bedeutenden Opernhäusern ihr Publikum beeindruckte, war ihr die Kontinuität in Berlin doch wichtiger als die internationale Laufbahn. Jahrzehntelang hielt sie dem Haus an der Bismarckstraße, wo sie wie ein Star gefeiert wurde, die Treue, und ihr strahlend-heller Sopran, den man auf ihrer jetzt erschienenen CD “Portrait of Pilar” zu hören bekommt, lässt sofort deutlich werden, wie sie das Berliner Publikum mit ihrer Stimme verzauberte. Wenn Pilar Lorengar Arien und Lieder von Puccini, Verdi, Mozart und Wagner oder von Komponisten aus ihrer spanischen Heimat singt, dann tut sie dies mit einer natürlichen Anmut und einer moralischen Ehrlichkeit, die einem schier den Atem rauben. Man nimmt ihr jedes Wort, das sie ausdrückt, ab, und das könnte Fischer-Dieskau gemeint haben, als er von dem Menschen sprach, “der aus ihr singt”.