Am 31. Juli 2022 feiert der deutsche Geiger, Dirigent und Musikgelehrte Reinhard Goebel seinen 70. Geburtstag. Der im westfälischen Siegen geborene Künstler zählt zu den bedeutendsten Interpreten Alter Musik. Mit seinem 1973 gegründeten Ensemble Musica Antiqua Köln schrieb Goebel Interpretationsgeschichte. Er revolutionierte den Klang barocker Musik und öffnete dem Publikum völlig neue Welten furioser Virtuosität und musikalischen Farbenreichtums auf alten Instrumenten. “Bach klang plötzlich wie Rock ‘n’ Roll: wild, hart, athletisch”, fasste der Deutschlandfunk in einem Porträt die energetische Wucht des musikalischen “troublemakers” (Goebel über Goebel) zusammen.
Bis an die Grenzen des virtuos Möglichen
Als Dirigent führte er die Solistinnen und Solisten, mit denen er zusammenarbeitete, oft an die Grenzen des virtuos Möglichen. Er tat dies nicht, um die Virtuosität als solche zur Schau zu stellen, sondern weil er bei bestimmten Werken aufgrund seiner musikwissenschaftlichen Expertise von einer schneller als bislang üblichen Interpretation überzeugt war.
Als er in den 1980er Jahren erstmals Bachs Brandenburgische Konzerte für die Archiv Produktion der Deutschen Grammophon aufnahm, waren viele Zeitgenossen irritiert von den ungewöhnlichen Tempi. Heute besitzen diese Aufnahmen neben vielen anderen seiner breitgefächerten Diskografie Kultstatus. Auch durch den kristallklaren Klang, die punktgenaue Präzision und den farblichen Reichtum seines Ensembles warf er ein neues Licht auf die Musik des Barocks und der Klassik.
Goebel hat dazu nicht nur als Dirigent und historisch bestens vorbereiteter Musikwissenschaftler beigetragen, sondern auch als Geiger von Weltrang. Seine Solokarriere musste er allerdings 2006 wegen gesundheitlicher Probleme mit der linken Hand an den Nagel hängen, was auch zur Auflösung seiner allseits bewunderten Gruppe Musica Antiqua Köln führte.
Bahnbrechende Aufnahmen für die Archiv Produktion
Umso tröstlicher ist es, dass der schillernde Maestro, der mit ungebrochener Energie als Dirigent weiterwirkt, sich mit seinem grandiosen Barockorchester eine imponierende Diskografie in der Archiv Produktion erarbeitet hat, die jetzt erstmals gebündelt in einer großen Edition der Deutschen Grammophon vorliegt. Die Ausgabe umfasst 75 CDs und ist eine wahre Fundgrube musikalischer Preziosen. Dass Werktreue nicht mit Gleichförmigkeit zu verwechseln ist, beweist der Dirigent und fulminante Geiger mit seinem Kölner Ensemble in jeder seiner mitreißenden Aufnahmen.
Bei Goebel ist historische Aufführungspraxis nie eine Einschränkung, sondern im Gegenteil eine Entfesselung musikalischer Energien, ob er sich nun Monteverdi, Händel oder Telemann widmet, das Schaffen der Bach-Familie würdigt, verborgene Schätze von Heinichen, Rebel und Veracini birgt oder mit einem tänzerisch furiosen Soundtrack zum Kinofilm “Le Roi danse” hervortritt. Dass dahinter ein denkerisch hochagiler Intellektueller steht, der Musik auch geistig zu durchdringen weiß, bezeugt das witzige und blitzgescheite Interview mit dem Künstler im reich bebilderten, 200-seitigen Booklet der neuen Edition.