Er war kein einfacher Mensch. Ein unbeugsamer Charakter, kämpfte er kompromisslos für seine Auffassung von Kunst.
Geniale Vorstellungskraft: Erich Kleiber
Erich Kleiber gehörte zu den Dirigenten, die eine sehr genaue Vorstellung davon haben, wie ein bestimmtes Orchesterwerk zu klingen hat. Er improvisierte nicht gerne. Seine Arbeit war kein “work in progress”, bei dem sich nach und nach das gewünschte Klangbild herausschält. Im Gegenteil: Kleiber hatte stets ein klares Gesamtkonzept vor Augen. Er wusste über jeden einzelnen Ton Bescheid. Seine Imaginationskraft war so gewaltig, dass er sich seine musikalischen Vorhaben 1:1 im Kopf vorzustellen vermochte.
Da die Ergebnisse brillant waren, besaß er schon als junger Mann ein hohes Ansehen. Spätestens in den 1920er Jahren stieg der 1890 in Wien geborene Orchesterdirigent zu einer der ranghöchsten Figuren des internationalen Musikbetriebs auf. Vor allem mit der Aufführung zeitgenössischer Werke macht er sich einen Namen. Legendär ist seine Uraufführung von
Alban Bergs moderner Schlüsseloper “
Wozzeck” im Jahre 1925. Aber auch Schönberg gehört zu seinem Repertoire. Dass Kleiber mit den Nazis in Konflikt geraten muss, ist absehbar.
Rastlose Jahre: Gefeierter Meisterdirigent
Im Jahre 1935 verlässt Kleiber Deutschland. Fortan verdient er seinen Lebensunterhalt als vielreisender, weltweit konzertierender Dirigent. Wo er auch hinkommt, wird er gefeiert. Doch trotz der Erfolge sind die dunklen Jahre der Nazidiktatur für Kleiber eine rastlose Zeit. Er wechselt häufig den Wohnort. Nirgends wird er richtig heimisch. Nach Zwischenstationen unter anderem in Salzburg, Lugano und Genf verlegt er seinen Lebensschwerpunkt im Jahre 1939 schließlich nach Buenos Aires und erwirbt später in der Provinz Córdoba ein Anwesen.
Im Jahre 1948 ist Kleiber erstmals wieder in Europa. Jahre gefeierten Konzertierens liegen hinter ihm. Sein entschiedener Stil hat sich verstetigt. Wenn Kleiber ans Pult tritt, dann tanzt das Orchester. Zugleich generiert der Mann mit der “romantischen DNA” (Zegna) glasklare Klänge. Die Intensität seiner Interpretationskunst ist unwiderstehlich. Kleiber hat seinen musikalischen Zenit erreicht, und in diese fruchtbaren Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg fallen die Aufnahmen, die Decca jetzt in einer ausgezeichneten Edition veröffentlicht.
Fabelhafte Edition: Kleibers Gipfelsturm
“
Erich Kleiber – Decca Recordings” enthält auf
12 CDs klassische Aufnahmen, die Kleiber im Zeitraum 1949–1955 für Decca getätigt hat, darunter Werke von
Mozart,
Schubert,
Beethoven und
Richard Strauss. Von pulsierender Verve sind die
Beethoven-Sinfonien. Kleiber nimmt mit dem Concertgebouw-Orchester die Sinfonien Nr. 3 (“Eroica”), Nr. 5, Nr. 6 (“Pastorale”) und Nr. 7 auf.
Mit den Wiener Philharmonikern spielt er ebenfalls die Eroica ein und schließlich auch die Neunte in einer furiosen Aufnahme mit Hilde Güden im Sopran. Kleiber wählt sich just die Sinfonien aus, die in Sachen Feierlichkeit und klanglicher Komplexität die allerhöchsten Ansprüche stellen, und er meistert dies bravourös. Dass der strenge Dirigent in jenen Jahren auch zu tanzen weiß, zeigen seine schwebenden Mozart-Aufnahmen.
Allen voran die Gesamteinspielung von “Le nozze di Figaro”, bei der man unter der Begleitung der Wiener Philharmoniker die famose Lisa della Casa (Die Gräfin) zu hören bekommt. “Der Rosenkavalier” von Richard Strauss gilt in Kleibers Interpretation mit den Wiener Philharmonikern als Klassiker. Hier hört man den unfassbar weich fließenden Sopran von Maria Reining (Die Marschallin). Das ist einmalig, ein Erlebnis für sich.