Anatol Ugorski ist einer der eigenwilligsten Pianisten der Gegenwart. Der russische Ausnahmekünstler weiß die Fachwelt und seine um den ganzen Globus verstreute Fangemeinde immer wieder mit unkonventionellem Klavierspiel zu überraschen. Dabei hat er nie den Stein der Weisen für sich beansprucht.
Genie der Spontaneität: Anatol Ugorski
Worauf er jedoch ein Patent hat, das ist die Wahrheit genialer Augenblicke, in denen die schönsten Klangelemente großer Klaviermusik in überwältigender Weise zueinanderfinden. Ugorski selbst hat die Formel von der “Wahrheit des Augenblicks” geprägt. Was er damit sagen will, ist, dass jede Interpretation spontan entsteht. Das Klavierspiel ist nicht planbar. Es lebt von der Performance, die glücken oder misslingen kann.
Das Publikum sehnt sich, so Anatol Ugorski, “nach einem Moment spiritueller Vollkommenheit”. Solche Momente gibt es bei dem russischen Pianisten in Hülle und Fülle, wie die soeben erschienene Edition von Anatol Ugorski eindrucksvoll belegt. Die Ausgabe bringt erstmals in gebündelter Form sämtliche Aufnahmen auf den Markt, die Ugorski für das Gelblabel getätigt hat.
Angefeindet: Ein Flüchtlingsschicksal
Der Pianist kam auf abenteuerlichem Weg zur Deutschen Grammophon. Ugorski lebte Anfang der 1990er Jahre in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft. Die Familie war Hals über Kopf aus Russland geflohen, da sie sich massiven antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt sah. Die deutsch-amerikanische Schriftstellerin Irene Dische kümmerte sich um Ugorski. Ergriffen von dessen mitreißender Interpretation der Beethovenschen Diabelli-Variationen, vermittelte sie ihm eine Aufnahme beim Gelblabel:
Der Beginn einer furiosen Folge glänzender Aufnahmen, die den Pianisten als eigenwilligen Spezialisten romantischer und moderner Klavierliteratur auswiesen und seinen internationalen Ruhm begründeten. In der Sowjetunion war ihm kein Glück beschieden gewesen. Schon der frenetische Beifall, den er Pierre Boulez bei einem russischen Gastspiel gespendet hatte, brachte die Obrigkeit gegen ihn auf. Ugorski ließ sich nicht kleinkriegen und setzte sich unnachgiebig für avantgardistische Kompositionskunst ein.
Romantisches und Modernes: Eine noble Edition
Dieses leidenschaftliche Interesse an der Moderne schlägt sich auch in seiner jetzt erschienenen Edition nieder, die mit einem unterhaltsamen Mix aus romantischer und moderner Klavierliteratur aufwartet. Flamboyant: Seine Skriabin-Interpretationen. Vor allem die späte, visionäre Klaviersonate Nr. 9 des russischen Komponisten rockt bei Ugorski. Ein wunderbar lyrischer Kontrast dazu: das mit Boulez und dem Chicago Symphony Orchestra aufgenommene, chopineske Klavierkonzert Skriabins.
Natürlich dürfen in einer solchen Ausgabe die Diabelli-Variationen nicht fehlen. Wie die renommierte Musikkritikerin Eleonore Büning im beigefügten Booklet-Essay der Ausgabe schreibt, verleiht Ugorski ihnen gegen jede Konvention eine “kecke Kontur”. Eine ungeheure Spontaneität, gepaart mit poetischem Feingespür, zeigt sich schließlich auch in den glänzenden Interpretationen von Komponisten wie Schumann oder Chopin, Messiaen oder Strawinsky. Für Liebhaber tiefsinniger Klaviermusik ist die Ausgabe deshalb ein absolutes Muss.