“Die Zeit, die ist ein sonderbar‘ Ding”, heißt es so schön bei Hofmannsthal und Richard Strauss hat diese Worte durch seine Musik zum “Rosenkavalier” unsterblich gemacht: Den wahren Wert dieser Worte aber wird man wohl erst mit zunehmendem Alter ganz und gar begreifen. Wie die Zeit vergeht, wie sie scheint’s immer mehr an Tempo gewinnt, das wird einem vor allem in der Vorweihnachtszeit bewusst. Dann nämlich, wenn man das vergangene Jahr Revue passieren lässt und meint, alles hätte doch gerade eben erst stattgefunden – wie kann es dann sein, dass man jetzt über nahezu 365 Tage Zeugnis ablegen möchte? Die gefühlte Zeit, das ist es, was uns dabei so mysteriös erscheint, und kein Loriot kommt einem zu Hilfe, indem er einem klarmacht, dass dann wohl mit unserem Gefühl etwas nicht stimmt. Nicht nur beim Frühstücksei…
Aber Erinnerung ist immer auch Rück-Besinnung, und in diesem Sinne war das zur Neige gehende Jahr 2018 reich an erinnerungswürdigem musikalischen Material. Im Großen wie im Kleinen, in der Komplexität ebenso wie in individueller Ausgestaltung einzelner Projekte und Themen. Und komplex sind sie, die übergreifenden Themen des Jahres, ob nun
Leonard Bernsteins 100. Geburtstag oder der 100. Todestag von
Claude Debussy, ob
Johann Sebastian Bach 333. Geburtstag oder dem 120. Jubiläum der
Deutschen Grammophon. Jedem der vier Anlässe widmete die Deutsche Grammophon viel Raum und Zeit, um der jeweiligen Würdigung ihren standesgemäßen Rahmen zu verleihen. “Lenny” war mit seiner
Complete Recordings on Deutsche Grammophon & Decca, einer
Complete Works und einer Neuaufnahme seiner “
Mass” unter
Yannick Nézét-Seguin exzellent vertreten, mit
Bach333 hat die DG es geschafft, die bislang umfangreichste und umfassendste Dokumentation des Bach’schen Kosmos zu präsentieren – eine wahre Sisyphusarbeit, die allen wirklichen Bach-Fans am Herzen liegen sollte! Claude Debussy ist in seinem – im Vergleich zu Bach! – zahlenmässig eher bescheidenen, aber in der Wirkung nicht minder revolutionären Bedeutung mit einer
Complete Works gewürdigt worden. Und, last but not least, das Label selbst feierte sich mit einer umfassenden
DG120 Compilation, umrahmt von einem historischen Konzert in Beijings Verbotener Stadt, u.a. mit dem Pianisten
Daniil Trifonov, sowie einem imposanten Geburtstagskonzert in der Berliner Philharmonie mit der Staatskapelle Berlin und dem Pianisten
Lang Lang sowie der Geigerin
Anne-Sophie Mutter als musizierenden Gratulanten. Beides auch als Livestream über den gesamten Globus zu verfolgen!
Überhaupt, die Solisten des Gelbetiketts. Auf sie war auch anno 2018 wieder Verlass und sie bescherten uns und den Musikinteressierten interessante und spannende Projekte – mit oder ohne konkreten geschichtsträchtigen Anlass. Anne-Sophie Mutter ehrte einen ihrer zeitgenössischen Lieblingskomponisten,
Krzystof Penderecki, mit einer
Hommage zum 85. Geburtstag.
Daniel Barenboim und
Maurizio Pollini widmeten sich dem Jubilar des Jahres, Claude Debussy, in zwei Aufnahmen, die ihre Reverenz gegenüber dem Franzosen zum Ausdruck brachten.
Krystian Zimerman wiederum erfüllte Leonard Bernstein einst spielerisch in den Raum geworfenen Wunsch, zu seinem 100. Geburtstag als Ständchen seine
Age of Anxiety-Komposition für ihn zu spielen. Sein Wunsch war Krystian Befehl, und so ging er mit dieser von ihm einst aus der Taufe gehobenen Komposition auf eine Welttournee und spielte sie – quasi als ganz persönliche Widmung zum 100. – für Lenny und die deutsche Grammophon neu ein. Danke Krystian! Mit
Martha Argerich und dem geheimnisvollen Armenier
Sergej Babayan an ihrer Seite wurde das kompositorische Oeuvre für Klavier zu vier Händen von
Sergej Prokofieff neu beleuchtet und Daniel Barenboim widmete sich den
vier Symphonien von Johannes Brahms in einer Neueinspielung mit der
Staatskapelle Berlin.
Daniel Hope wiederum folte einem seiner Lieblingskomponisten auf einer sehr persönlichen und überraschend aktuellen “
Journey to Mozart”. Und wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen. Denn weil Tradition und die Weiterführung der hohen Deutsche Grammophon-Standards in künstlerischen wie technischen Belangen eine Herzensangelegenheit aller unter dem gelben Dach Vereinten sind, ließen es sich die jungen Interpretinnen und Interpreten nicht nehmen, ihren Beitrag für den Fortbestand der Tradition einerseits und die Erschließung neuer kreativer Felder zu leisten. Ob Daniil Trifonov mit der Eröffnung seines Doppel-Projektes “
Rachmaninoff: Departure and Arrival”, dem er auch seinen Auftritt zur Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 widmete!, oder der Geiger
Daniel Lozakovich mit seiner verinnerlichten Sicht auf
Bachs Violinkonzerte, oder aber der Sieger des letzten Internationalen Warschauer Chopin-Wettbewerbs, der südkoreanische Pianist
Seong-Jin Cho und bescheiden-stille Star unter den Jüngeren seiner Zunft, mit seinem hinreißenden
Mozart-Album – der Nachwuchs ist längst flügge geworden und setzt unüberhörbare und sehr persönliche Zeichen im gelben Veröffentlichungsreigen. Ein besonderes Augenmerk aber gilt der amerikanischen Ausnahmegeigerin
Hilary Hahn, die ihrer weithin gerühmten, jugendlichen
Bach-Soloaufnahme von 1997 nun, mehr als 20 Jahre später, das Pendant aus der interpretatorischen Sicht einer gereiften und lebensklugen Künstlerin von höchstem Rang zur Seite stellt.
Mit dem Cellisten
Kian Soltani und dem Isländer
Víkingur Ólafsson betraten zwei Künstler mit ganz besonderem persönlichen Charme und künstlerischer Ambition die Aufnahmestudios ebenso wie die Bühnen der Welt. Während der eine auf seinem Debütalbum “
Home” die Ambivalenz des Begriffes Home für einen Menschen mit persischen Wurzeln und österreichischer Sozialisation überzeugend zu vermitteln weiß, beeindruckt der andere mit seinen quasi meditativen Ausflügen so unterschiedliche Welten wie die von Philip Glass in der Vergangenheit und die von
Johann Sebastian Bach anno 2018.
Und auch wenn die Instrumentalisten in diesem Rückblick in der Mehrheit sind, die Vokalisten konnten sich auch im vergangenen Jahr nachdrücklich Gehör verschaffen mit Aufnahmen, die aufhorchen ließen: Argentiniens Countertenor
Franco Fagioli ließ die Händel- und Fagioli-Gemeinde zu seinem fulminanten
Händel-Album verzückt die Ohren spitzen, während
Cecilia Bartoli gleich dreifach für Aufsehen sorgte: ihrem 30-jährigen Jubiläum auf DECCA widmete das Schwester-Label der Römerin eine Gesamtaufnahme ihrer
Rossini-Einspielungen. Mit der frisch aus der Taufe gehobenen Serie “
Mentored by Bartoli” schuf die Mezzosopranistin dem von ihr geschätzten und geförderten Nachwuchs eine mediale Plattform und stellte als erstes den jungen mexikanischen Tenor
Javier Camarena mit seinem Album “
Contrabandista” vor. Und als Höhepunkt des “Bartoli-Jahres 2018” gab es ein Wiederhören mit der Vokalmusik
Antonio Vivaldis, mit der La Bartoli anno 1998 ihre grandiose Entdeckungs-Mission auf Decca begonnen hatte und die sie zu einer Ausnahmesängerin unserer Zeit avancieren ließ. Die Bayreuther Festspiel-Produktion des Jahres 2017, Barry Koskys Sicht auf “
Die Meistersinger von Nürnberg”, darf in diesem Rahmen als jüngster Teil der Bayreuther DVD-Serie auf Deutsche Grammophon ebenso wenig fehlen wie die Huldigung an eine der größten Wagnersängerinnen aller Zeiten, deren Karriere auf den Grünen Hügel zur Pilgerstätte für
Birgit Nilsson-Fans aus aller Welt werden ließ und für die die Labels DG, Decca und Philips ihre Archive zu einer klingenden Hommage zum 100. Geburtstag öffneten.
Und während der eine Dirigent sich ins einer Doppelfunktion als Dirigent und Pianist auf dem Gelblabel verewigte, blieb ein anderer Dirigent, der nebenbei bemerkt auch großartig die Trompete zu Blasen versteht, auf seinem Pult vor seinen Orchestern – der Lette
Andris Nelsons. Mit dem Leipziger Gewandhausorchester feierte er nicht nur dessen 275. Geburtstag, sondern auch die beeindruckende Fortsetzung eines gemeinsamen Zyklus von
Anton Bruckners sinfonischem Oeuvre, gepaart mit ausgewählten Vorspielen und Ouvertüren von Richard Wagner. Wohingegen er mit dem Boston Symphony Orchestra weiter an der Vollendung seines Zyklus mit Sinfonien von
Dmitri Schostakowitsch arbeitete und hierfür bereits 2015 und 2016 mit dem Gewinn des Grammy Awards allerhöchsten Lorbeer erntete.
Was aber wäre dieses Jahr ohne seine Komponisten und Interpreten auf dem Gebiet der Neo-Klassik:
Ólafur Arnalds überraschte mit einem ebenso innovativen wie musikalisch faszinierenden Album voller technischer Raffinesse – “
re:member”. Und
Max Richter, mittlerweile eine sichere Bank für die musikalische Untermalung nicht nur von Hollywoods Blockbustern! – trug mit seinem Album “
Werk ohne Autor” nicht unwesentlich dazu bei, dass dieser Film über den Maler Gerhard Richter als deutscher Beitrag für den “Auslands-Oscar” 2019 nominiert wurde und schaffte es mit seiner bearbeiteten Re-Edition von einem seiner ersten Erfolge “
The Blue Notebooks” einem zeitlosen Werk zu neuer Aktualität zu verhelfen. Allerdings wurde die Welt der Neo-Klassik im Frühjahr auch von der Nachricht überrascht, dass der isländische Komponist
Jóhann Jóhannsson plötzlich und unerwartet im Alter von nur 49 Jahren verstarb und damit eine vielversprechende Deutsche Grammophon-Kariere ihr jähes Ende fand. Mit einer umfangreichen Hommage an das vielfältige Werk von Johannsson wird die Deutsche Grammophon im kommenden Jahr dem viel zu früh Verstorbenen ein klingendes Denkmal setzen. Aber da sind wir schon bei der Fortsetzung dessen, was mit dem heutigen Rückblick begann – einem Ausblick auf das Jahr 2019, dem wir uns in der kommenden Woche widmen wollen.