Dmitri Shostakovich | News | Die russische Seele

Die russische Seele

06.09.2006
Dmitri Schostakowitsch war einer der vielseitigsten Komponisten des vergangenen Jahrhunderts. Er komponierte 15 Sinfonien, schuf ebenso viel Streichquartette, darüber hinaus zahlreiche Konzerte, Opern, Klavier- und Kammermusiken, Ballette, außerdem eine Operette, Oratorien, Kantaten, Lieder, Film- und Bühnenmusiken. Mit mal subtilen, mal pathetischen Mitteln setzte er eine sinfonische Tradition fort, die mit Beethoven, Tchaikovsky und Mahler begonnen hatte und schuf im anhaltenden Konflikt mit den kommunistischen Machthabern in seiner Heimat eine moderne Form russischer Nationalmusik. Er wagte Ausflüge in die Klangwelt des Jazz, experimentierte vor allem als junger Komponist mit der Formensprache der Neuen Wiener Schule und entwickelte zwischenzeitlich einen freitonalen, polyrhythmischen Individualstil, der sich zugunsten der musikalischen Offenheit formaler Zwänge der Spätromantik entledigte und den er erst im Streit mit Stalins Staatsideologen revidierte. Am 25. September wäre Dmitri Schostakowitsch 100 Jahre alt geworden. Die Decca und die Deutsche Grammophon ehren ihn aus diesem Grund mit einer umfassenden Werkedition.
Im Jahr 1919 begann Schostakowitsch am Konservatorium von St. Petersburg, Klavier und Komposition zu studieren. Zunächst galt er als begabter Instrumentalist, der sich vor allem als Solist auf der Bühne hervortat. Seine Interessen galten dem Klavier, allerdings mit zunehmender musikalischer Kompetenz auch größeren Formen. Als er 1925 eine Abschlussarbeit vorlegen sollte, wagte er sich daher an seine erste Sinfonie, die, obwohl deutlich dem romantischen Ideal verpflichtet, bereits erahnen ließ, dass er sich auf Dauer nicht mit dem althergebrachten Ausdrucksinventar begnügen würde. Zu sehr hinterließ die Skepsis gegenüber dem Tonalen, die die Neue Wiener Schule angestoßen hatte, ihre Spuren im Denken des jungen Revoluzzers und so erwies er sich über seine Lebensspanne hinweg als ein bedeutender Renovator der orchestralen Klangkunst, der noch weitere 14 Sinfonien dem ersten Versuch folgen ließ. Sie wurden zum Teil für politische Zwecke vereinnahmt, schafften es aber trotz aller musikideologischer Repressalien eine stilistische Eigenständigkeit zu entwickeln, die das Medium “Orchesterwerk” von innen heraus erneuerte. Für den holländischen Dirigenten Bernard Haitink war es daher eine große Aufgabe, sich des disparaten und zugleich konzisen sinfonischen Oeuvres anzunehmen. Zwischen 1977 und 1984 widmete er sich gemeinsam mit dem Concertgebouw Orchestra und dem London Symphony Orchestra dem ehrgeizigen Unterfangen und schuf auf diese Weise eine herausragende Werkschau, die nun in der Box “The Symphonies” mit 11 CDs zusammengefasst einen umfassenden Überblick über die orchestrale Klangkunst von Shostakovich bietet. 

Der Ruf als versierter Sinfoniker überdeckt zuweilen die Kompetenzen, die Schostakowitsch vor allem in jungen Jahren als Komponist und Interpret von Solo- und Kammermusik erworben hatte. Er verstand sich zunächst in der Tradition von Landsleuten wie Rachmaninov und Prokofiev, die es ebenfalls auf der Bühne als Pianisten weit gebracht hatten, entfernte sich jedoch im Laufe seines Lebens immer weiter von den kleinen Form. Allerdings fand er unter besonderen Voraussetzungen immer wieder zu den instrumentalen Wurzeln zurück. Seine “24 Präludien und Fugen, op. 87” beispielsweise gehören zu den seltenen Beispielen später Arbeiten für Klavier. Sie entstanden zwischen Oktober 1950 und Februar 1951 und waren inspiriert von den Erlebnissen einer Reise des Komponisten ins sozialistische Ausland. Shostakovich war anlässlich des 200.Todestags von Johann Sebastian Bach zum Bachfest nach Leipzig eingeladen worden. Die Musik, die er dort hörte, inspirierte ihn derart, dass er ähnlich dem “Wohltemperierten Klavier” einen Zyklus schrieb, der alle Tonarten am Klavier behandeln sollte. Allerdings ging er nicht chromatisch, sondern nach dem Quintenzirkel und Paralleltonarten vor. Gespielt von Vladimir Ashkenazy sind sie Teil der 5CD-Sammlung “Piano Music – Chamber Works”, die unter anderem auch Klavier- und Cellosonaten, das zweite Klaviertrio, das Klavierquintett und zahlreiche Miniaturen umfasst. Neben Ashkenazy sind außerdem Olli Mustonen, Lilja Zilberstein, das Beaux Arts Trio, das Fitzwilliam String Quartett und die Cellistin Lynn Harrell damit befasst, eine andere, weniger bekannte Seite von Schostakowitsch zu präsentieren, die noch viele Entdeckungen in sich birgt. 

Streichquartette wiederum erscheinen erst spät in Schostakowitsch Biographie, denn sie entsprachen als typische Gattung der Romantik zunächst nicht dem revolutionären Ethos des jungen Komponisten. Erst als er die Phase der Experimente hinter sich gelassen hatte und nach subtileren Ausdrucksmöglichkeiten einer bereits gefestigten Klangsprache suchte, wurde diese intime Musikform für ihn interessant. Das erste Streichquartett entstand 1938, ein weiteres folgte vor Kriegsende, die eigentliche Virtuosität im Umgang mit der kammermusikalischen Gattung entwickelte Schostakowitsch aber erst von 1946 an mit weiteren 13 Werken für das kleine Ensemble. Das amerikanische Emerson String Quartet nahm sich daher vor, gerade diesen Aspekt der Reife und der subtilen Fortführung der Stilsprache herauszustellen. In drei Arbeitsphasen widmete es sich 1994, 1998 und 1999 der Gesamteinspielung der 15 Werke, die inzwischen zu den Klassikern der Quartett-Aufnahmen gehört. Zusammengefasst und ausführlich kommentiert zählt die 5CD-Box “The String Quartets” daher zu den Standards jeder exquisiten Klassik-Sammlung. 

Bildeten die Sinfonien eine kontinuierliche Entwicklung im Klangschaffen des Komponisten ab – die erste schrieb er im Alter von 19 Jahren, die letzte blieb durch seinen Tod 1975 unvollendet – so dokumentieren die Konzerte, Orchestersuiten und Kammersinfonien jeweils einzelne Schlaglichter und Arbeitsphasen, die Shostakovitch mit sehr unterschiedlichen musikalischen Vorstellungen zusammen brachten. Die 9CD-Kollektion “Concertos – Orchestral Suites – Chamber Symphonies” ist daher ein ungewöhnlicher Rundgang durch die Klangwelten des 20. Jahrhunderts. Das Spektrum reicht von spätromantischen Ausflügen über die tonal freieren Phasen bis hin zum Flirt mit der Kreativität des frühen Jazz, der den jungen Komponisten durch seine Ehrlichkeit und Direktheit in den Bann gezogen hatte. Zu den Künstlern, die ihn auf dieser musikalischen Reise begleiten, gehören unter anderem Heinrich Schiff, Vladimir Ashkenazy, Bernard Haitink, Viktoria Mullova , Gidon Kremer, André Previn, Neeme Järvi und Riccardo Chailly. Ein buntes Panoptikum mit vielen Überraschungen. 

Und nicht zuletzt war Schostakowitsch auch ein virtuoser Komponist der Bühne. Vieler Werke der Zwanziger beispielsweise hatten mit dramatischen Formen zu tun. Es entstanden Bühnenmusiken für Schauspiele und Revuen, Filmmusiken, Ballette, eine wunderbar absurde Oper, die auf Gogols Erzählung “Die Nase” basierte. Anfang der Dreißiger nun verspürte Schostakowitsch das Bedürfnis, all diese Kompetenzen in einem ernsten Werk zusammen zu fassen. So entstand der Plan zu “Lady Macbeth von Mzensk”. Bereits 1932 war die Oper weitestgehend fertiggestellt, im Januar 1934 wurde sie in St. Petersburg uraufgeführt. Sie sollte sich jedoch zu einem großen Hemmschuh für die eigene Laufbahn entwickeln, nicht wegen künstlerischer, sondern wegen politischer Gesichtspunkte. “Lady Macbeth von Mzensk” war zwei Jahre lang erfolgreich in Leningrad und Moskau gelaufen, bis Josef Stalin eine der Aufführungen besuchte. Der Diktator mochte das Werk nicht. Prompt erschien zwei Tage später ein Pamphlet in der Parteizeitung Prawda. Vorsorglich wurde außerdem wenige Tage später Shostakovichs Ballett “Der helle Bach” verrissen, so dass die Botschaft deutlich genug war: Mach das, was der Partei gefällt, sonst ist es vorbei mit deiner Karriere! Für die Oper bedeutete das zunächst das Aus. Erst als mit der Chruschtschov-Ära zeitweise eine liberalere Form des Sozialismus sich durchzusetzen begann, wagte Shostakovich sich noch einmal an das Werk, überarbeitete es und führte es 1963 unter dem neuen Titel “Katerina Ismailova” auf. Damit begann die Rehabilitierung des Werkes, das inzwischen zu den zentralen Bühnenstücken des 20. Jahrhunderts zählt und zwei der fünf CDs der Box “Songs – Lady Macbeth of Mtsensk” für sich beansprucht. Darüber hinaus sind Romanzen und Gedichtvertonungen, Fabeln und Volkslieder zu hören, von Größen ihrer Zunft wie Dietrich Fischer-Dieskau, Larissa Diadkova, Elisabeth Söderström, Vladimir Ashkenazy und Maestri wie Myung-Whun Chung und Neeme Järvi in Szene gesetzt.

Auf dem Münchner Kult-Label ECM New Series finden sich acht Aufnahmen mit Werken von Schostakowitsch: Weltklasse Interpreten wie Thomas Demenga, Kim Kashkashian, Gidon Kremer, Alexei Lubimov, Thomas Zehetmair, das Rosamunde Quartett und das Keller Quartett widmen sich dabei im wesentlichen dem kammermusikalischen Spätwerk für Streicher. Unter den Aufnahmen mit Klavierwerken des Russen wurde Keith Jarretts Aufnahme der “24 Präludien und Fugen op. 87” mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Aus Anlass von des runden Geburtstags erscheint diese Einspielung übrigens im Herbst als Deluxe-Version.

Mehr Musik von Dmitri Shostakovich