»Ich folge, wohin die Musik mich führt«, sagt Dustin O’Halloran. Es ist ein Satz, der zu dem Musiker passt, zu seiner langsamen Wanderung von Land zu Land und auch zu seinem wandelbaren Sound.
Dustin O’Halloran wurde in Phoenix, Arizona, geboren, lebte dann in Los Angeles, zog später für sieben Jahre ins ländliche Norditalien und ging für ein Jahrzehnt nach Berlin, bevor er sich 2018 in Reykjavík niederließ. Heute verbringt er einen Teil seiner Zeit wieder in Los Angeles. Sein Werk folgte indessen einem ähnlich abwechslungsreichen Weg. Es entwickelte sich um die Jahrhundertwende mit Dēvics, einer Band von O’Halloran und Sara Lov. 1996 kam ihr erstes Album heraus, später wurden sie von Bella Union unter Vertrag genommen. Nach Dēvics’ traumverlorenem Pop fand O’Halloran zu einer Reihe von ambitionierten Soloalben, die wiederum zu einer durch Oscarnominierungen und Emmy-Gewinn gekrönten Karriere als Komponist für Film und Fernsehen sowie für mehrere Tanz- und Kunstprojekte führte. Hinzu kommt O’Hallorans erfolgreiche Zusammenarbeit mit Adam Wiltzie von Stars Of The Lid. Sie gründeten A Winged Victory For The Sullen und schufen ein eigenwilliges Ambient-Orchesterprojekt, das in der ganzen Welt aufgeführt wurde.
Der Pianist und Komponist Dustin O’Halloran hat also bis heute einen unkonventionellen Weg zurückgelegt. Aber immer spiegelte er in seinen Projekten vertraute und doch zugleich private Emotionen. Sie fanden Widerhall in den zurückhaltenden Tönen seiner Piano Solos Vol. 1 & 2 (2004, 2006), in dem raffinierten elektronischen Kolorit, das die Klanglandschaften von A Winged Victory For The Sullen ausmacht, oder den vielgestaltigen Arrangements, die seine (vergleichsweise) grandioseren Werke kennzeichnen – darunter die zarten Streicher seines letzten Soloalbums Lumiere (2011); der atmosphärische Soundtrack zu Lion, der ihm und seinem Co-Autor Volker Bertelmann alias Hauschka eine Oscarnominierung eintrug, oder das bittersüße »Horizons« (2018), das Schlussthema aus Puzzle, mit der skandinavischen Musikerin Ane Brun, die es 2018 bei der Feier zur Verleihung des Friedensnobelpreises vortrug.
O’Halloran hat seine Begabung früh gepflegt. Nachdem er sich mit sieben Jahren selbst das Klavierspiel beigebracht hatte, begann er schon bald Musik zu schreiben, inspiriert von den Klängen, die er beim Ballettunterricht seiner Mutter hörte. Es dauerte nicht lange, bis der Einfluss von Chopin, Pärt und Debussy einer Vorliebe für andere Musiker wich: Cocteau Twins (deren Mitglied Simon Raymonde ihn später für sein Label Bella Union verpflichtete), Gavin Bryars, Morton Feldman und Joy Division. O’Halloran war noch keine zwanzig, als er Lieder für Dēvics schrieb gemeinsam mit Sara Lov, der er am Santa Monica College begegnet war, wo er selbst Kunst studierte. Er zögerte zunächst, seine Klavierkompositionen zu veröffentlichen, aber gerade ihre an Satie erinnernde Einfachheit trug dazu bei, dass er sich – neben Hauschka, Jóhann Jóhannsson, Max Richter und Nils Frahm in der Musikszene etablieren konnte. Frahm war Tontechniker bei Aufnahmen für O’Halloran, der 2018 verstorbene Jóhannsson besorgte die Abmischung von Lumiere.
O’Halloran gewann viele Fans mit seinen Soloaufnahmen und mit A Winged Victory For The Sullen (die ihr erstes Album 2011 herausbrachten und ihr jüngstes, The Undivided Five, 2019 bei Ninja Tune), doch seinen großen Durchbruch erreichte er mit den drei Solostücken, die er für Sofia Coppolas Marie Antoinette (2006) komponierte. Seither ist er noch bekannter geworden, etwa durch seine Arbeit für die Serie Transparent (2014–17), für die er einen Emmy erhielt, oder für das Filmdrama Lion (2016), sein erstes Projekt mit Bertelmann und nominiert für einen Oscar, Golden Globe, BAFTA und Critics’ Choice Award. Weitere Filme sind Drake Doremus’ Like Crazy (2011), das den Grand Jury Prize des Sundance Festival gewann, und Breathe In (2013) mit Guy Pearce und Felicity Jones in den Hauptrollen sowie Fernsehfilme wie (wiederum in Zusammenarbeit mit Bertelmann) die kommende BBC-Version von A Christmas Carol unter der Regie von Nick Murphy, mit dem O’Halloran schon neben Bryan Senti an der BAFTA-nominierten Fernsehserie Save Me (2018) gearbeitet hat.
Und auch in anderen Kunstformen kam O’Hallorans Musik zur Geltung. 2014 schrieben A Winged Victory For The Sullen ATOMOS im Auftrag von Wayne McGregor, dem Choreografen des Royal Ballet in London. 2019 brachte er im Rahmen der Liquid Music Series in Minneapolis die elektronische Komposition 1 0 0 1 mit dem Choreografen Fukiko Takase zur Uraufführung, der schon in ATOMOS mitgewirkt hatte. Nachdem O’Halloran nun in diesem Jahr einen Vertrag mit Deutsche Grammophon unterzeichnet hat, veröffentlicht er im November seine erste EP beim Label: Sundoor mit dem 20-minütigen Stück »196 Hz«, einer Adaptation einer Komposition von 2017 für das Werk Sundoor At World’s End des Multimedia-Künstlers Slater Bradley.
Ob sich in diesen jüngeren Stücken – von denen keins mit Klavier ist – ein künftiger Weg abzeichnet, weiß nur O’Halloran selbst und vielleicht nicht einmal er. Unlängst nahm er mit seiner alten Dēvics-Partnerin Lov einen Song für deren nächstes Soloalbum auf. Zudem erscheint bald ein Stück mit Ane Brun. Und O’Halloran wirkt auch bei Thanks For The Dance (2019) mit, dem letzten, posthumen Album von Leonard Cohen, das in scharfem Kontrast zu seiner Arbeit als Produzent des letzten Tracks von Katy Perrys Witness (2017) steht. Es hat wohl keinen Sinn zu spekulieren. Mit Studios in Reykjavík und Los Angeles ist O’Halloran nach wie vor bereit, seiner Inspiration an jeden Ort zu folgen. Denn so hat er immer am besten gearbeitet und wird es auch zukünftig tun: »Deutsche Grammophon«, sagt er, »ist unglaublich offen. Sie sind bereit, Ideen jenseits der Kategorien von Kammermusik und Orchestermusik auszuloten. Und das ist wirklich aufregend …«