Die alten Griechen sprachen von Kairos, wenn sie das Phänomen eines günstigen Augenblicks zu fassen suchten. Ein solcher Kairos muss auch im Spiel gewesen sein, als Arvo Pärts Album “Tabula rasa” in den 1980er Jahren entstand. Alles stimmte, alles fügte sich wie von magischer Hand. Im Hintergrund zog indes der Musikproduzent Manfred Eicher die Fäden. Er schuf die klanglichen und organisatorischen Voraussetzungen dafür, dass Pärts Album so, wie es später erschien, entstehen konnte.
Eicher gewann nicht nur den Komponisten Arvo Pärt für sein ambitioniertes Aufnahmeprojekt, sondern rief mit dem Pianisten Keith Jarrett, dem Geiger Gidon Kremer, den 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker und dem Staatsorchester Stuttgart unter Dennis Russell Davies auch hochprofilierte Ensembles und Solisten ins Studio, die sich Pärts neuartiger Klangpoesie gewachsen zeigten und sie mit aus der Taufe zu heben halfen.
Geburt der New Series
Eigens für diese Produktion gründete er 1984 dann, als Imprint seines 1969 ins Leben gerufenen Jazz-Labels ECM, die New Series. Dieses Label feiert nun in diesem Jahr, 2024, sein vierzigjähriges Bestehen. Aus diesem Anlass hat ECM New Series Pärts Album Tabula rasa" neu aufgelegt. Es erscheint in einer faksimilierten Gatefold-Edition, mit dem ursprünglichen Begleitessay von Wolfgang Sandner im beiliegenden Heft. In der aufklappbaren Hülle befindet sich, wie seinerzeit, eine auf 180g Vinyl gepresste LP.
Indes wollen keine Gefühle der Nostalgie aufkommen, wenn man das Album jetzt wieder zur Hand nimmt. Pärts Klangkosmos, der in seiner spirituellen Größe weit über das hinausreicht, was sterile Begriffe wie “Neue Einfachheit” oder “Minimalismus” zu greifen bekommen, ist von unverminderter Frische.
Der winterlich-melancholische Ton von “Fratres”, den Gidon Kremer und Keith Jarrett kongenial anstimmen, hat nichts von seiner poetischen Kraft und subtilen Gespanntheit eingebüßt. Immer noch fasziniert auch, wie anders dasselbe Werk in der Fassung für 12 Celli klingt. Bei den 12 Cellisten wirkt es nicht nur breitflächiger, sondern durch den gehaltenen Orgelton und die wenigen, jedoch strukturierenden Interventionen des Schlagzeugs auch meditativer, in sich gekehrter.
Pärts Vielgestaltigkeit
Der “Cantus in Memory of Benjamin Britten” gewinnt mit seinen wiederkehrenden Glockenschlägen und den hoch ansetzenden, jedoch zusehends tiefere Gefilde aufsuchenden und zu immer größerer Fülle anwachsenden Streicherklängen eine hypnotische Intensität. Dagegen verströmt das bereits 1977 in einer Live-Aufnahme des Westdeutschen Rundfunks in Bonn festgehaltene Tabula rasa", mit dem großen Komponisten Alfred Schnittke am präparierten Klavier, eher Töne einer erwartungsvollen Unruhe.
Insgesamt offenbart das Album, wie vielgestaltig und spannungsgeladen Pärts Musik ist und dass sie sich einfachen Zuschreibungen entzieht. Sandner erkannte dies in seinem luziden Essay, in dem Pärts Tintinnabuli-Stil mit vielen gültigen Formulierungen charakterisiert ist, schon früh: “Die Musik von Arvo Pärt neigt zu Extremen. Man spürt ihre Wurzeln und ihren Geist, aber der Klangkörper lässt sich nicht recht begreifen.” Vielleicht ist die Lehre aus “Tabula rasa” deshalb, dass Pärts Musik erst noch verstanden werden muss.
Wer “Tabula Rasa” als CD präferiert und eine vertiefte intellektuelle Auseinandersetzung mit Pärts Musik sucht, dem empfiehlt sich die Special Book Edition des Albums. Sie enthält neben der Musik auf CD ein Buch mit exklusiven Fotos aus dem ECM-Archiv, mit den Partituren aller vier Kompositionen des Albums, mit Faksimiles von Pärts Autografen (Tabula rasa" und Cantus in Memory of Benjamin Britten") sowie einem literarisch anspruchsvollen Essay von Paul Griffiths. Alle Texte in Englisch und Deutsch.