Konstantia Gourzi ist eine sprachmächtige, intellektuelle Komponistin, die weiß, warum sie Musik schafft: “Kunst ist die Nahrung des Geistes, ein Spiegel der heutigen Gesellschaft. Ohne diesen Spiegel geht unsere Identität verloren.” Das Statement findet sich in einem bemerkenswerten Beitrag, den die Komponistin zu Beginn des Jahres in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte. Darin wirbt sie für Kunst auf der Bühne mit Publikum. Die körperliche Begegnung sei durch Live-Streams nicht zu ersetzen. Jenseits der Coronakrise, die den Anlass für ihren Artikel bildete, gibt sie mit ihren Überlegungen entscheidende Hinweise auf das Movens ihrer künstlerischen Tätigkeit. Allem Anschein nach begreift sie ihr musikalisches Schaffen als eine Art Identitätsvergewisserung. Im Medium der Musik findet zusammen, was äußerlich oder geschichtlich nicht per se zusammengehört. So ist für Konstantia Gourzi, die in Athen aufwuchs und heute in München und auf der griechischen Insel Ägina lebt, die musikalische Verschmelzung östlicher und westlicher Traditionselemente seit jeher eine existenzielle Notwendigkeit gewesen.
Dass die Komponistin weite Bögen zu spannen vermag, hat sie mit ihrem viel beachteten New Series-Debut “Music for piano and string quartet” (ECM 2309) bereits unter Beweis stellen können. Auf ihrem soeben erschienenen zweiten Album für das Label von Manfred Eicher integriert sie ein noch breiteres Spektrum von Inspirationen.
Weite Bögen
So fügt sie Impressionen aus der bildenden Kunst, westliche und östliche Klangkonzepte, spirituelle Intuitionen und musikalische Prägungen zu einer hochgespannten Identität zusammen, deren Durchlässigkeit und stete Bereitschaft, Neues zu empfangen und es eigenwillig umzuschaffen, die Faszination ihres Komponierens ausmachen. Das Publikum ist Teil ihrer musikalischen Selbstbefragung, ähnlich wie die Engel, denen auf “Anájikon”, so der Titel ihrer neuesten Veröffentlichung, eine symbolische Schlüsselfunktion zukommt. Zwei der drei Werke ihres neuen Albums, das Orchesterstück “Ny-él” (2015/16) und das titelgebende Streichquartett “Anájikon” (2015), sind von den hageren, so berührend unschuldig wie verlassen wirkenden Engeln der Bronzeskulpturen des Berliner Künstlers Alexander Polzin inspiriert.
An der Schwelle zum Paradies
In der stillen, friedlichen Klangwelt von “Ny-él”, interpretiert vom Lucerne Academy Orchestra unter der Leitung der Komponistin, besichtigt der Engel einen Weißen Garten und weckt damit unweigerlich Gedanken ans biblische Paradies. Doch Gourzis Engel stoßen auch auf Widerstand, wie sich vor allem in dem Streichquartett “Anájikon” zeigt, das neben heiteren Stimmungen irritierende Momente von schmerzlicher Unerlöstheit aufkommen lässt. Das “Minguet Quartett”, für das Gourzi “Anájikon” schrieb, führt den Engel in den Blauen Garten, wo er unter dem Blauen Mond eine Episode der Dunkelheit durchlebt. “Hommage à Mozart” (2014), das dritte Stück auf dem Album, hat Konstantia Gourzi für den Bratschisten Nils Mönkemeyer komponiert, der unter der sanften Begleitung des koreanischen Pianisten William Youn eine träumerische Klangwelt erstehen lässt, die mit ihren östlichen Motiven und ihrer wienerischen Eleganz eine soghafte Wirkung entfaltet.