Musik kann politische Dimensionen annehmen. Jedenfalls gelingt es ihr in unruhigen Zeiten weniger gut, sich den großen Konflikten der Welt zu entziehen. Diese Erfahrung musste 2014 auch der ukrainische Komponist Valentin Silvestrov machen. Hatte er das Feld des Politischen bis dahin eher gemieden und es weder als reizvolles noch als notwendiges Gebiet künstlerischer Betätigung begriffen, so veränderten die prowestlichen Demonstrationswellen auf dem Kiewer Maidan-Platz seine Grundhaltung schlagartig.
Silvestrov wurde zum Augenzeugen einer geschichtsträchtigen Revolte und schlüpfte in die Rolle des musikalischen Chronisten, der dem Unabhängigkeitsstreben des ukrainischen Volkes klanglich Nachdruck zu verleihen suchte. “Maidan 2014”, sein wichtigstes kompositorisches Resultat jener Zeit, ist ein Chorwerk, das den kulturellen Eigensinn der Ukraine bezeugt. In dieser Hinsicht besitzt die Komposition heute wie kaum eine andere Musik der Gegenwart dramatische Dimensionen.
Geschichtlicher Augenblick
Denn genau jenen kulturellen Eigensinn der Ukraine, den Silvestrov herausstreicht, bestreitet der russische Präsident Wladimir Putin, der die Ukraine als Teil Russlands begreift und am 24. Februar 2022 mit seiner Armee in das Nachbarland eingefallen ist. Silvestrov betont, dass Putin nicht das Gesicht der russischen Kultur ist. Dessen ungeachtet leidet er unter dem Krieg, der ihn Anfang März gemeinsam mit seiner Tochter und Enkelin aus Kiew nach Berlin in die Flucht trieb.
Jetzt erscheint erstmals eine Aufnahme seines Chorwerks “Maidan 2014”. ECM New Series veröffentlicht den Mitschnitt einer Aufführung in der St.-Michaels-Kathedrale in Kiew aus dem Jahr 2016. Zu erleben ist der Kyiv Chamber Choir unter der Leitung von Mykola Hobdych. Neben dieser Aufnahme wartet das soeben, pünktlich zu Silvestrovs 85. Geburtstag erschienene Album “Maidan” mit drei kleineren Vokalwerken des Komponisten auf, den Zyklen “Four Songs” (2014), “Diptych” (2016) und “Triptych” (2015).
Stiller Ruf zur Besinnung
Obgleich er Farbe bekennt und jeden der vier Zyklen von “Maidan 2014” mit Variationen der ukrainischen Nationalhymne beginnen lässt, setzt Silvestrov keine aggressiven Zeichen nationaler Selbstbehauptung. Es gehe ihm, wie im Booklet-Essay von Tatjana Frumkis nachzulesen ist, um “die einfachen Dinge des Lebens”, die er mit einem “Sinn für die Schönheit der Welt und die menschlichen Gefühle” verbindet. Er könne und wolle “den Lärm dieses schrecklichen Krieges nicht verdoppeln”, sondern vielmehr zeigen, “wie verletzlich unsere Zivilisation ist”.
Das musikalische Bekenntnis zur Verletzlichkeit unserer Existenz macht denn auch den spirituellen Gehalt von Silvestros neuem Album aus. Die sich durch alle Kompositionen von “Maidan” ziehenden Gedichte von Taras Schewtschenko, dessen Werk als Grundlegung der modernen ukrainischen Literatur gilt, haben in Silvestros Kontext zwar zeugnishaften Charakter und beschwören den kulturellen Eigensinn der Ukraine. Sie rufen aber nicht zum Kampf auf, sondern wirken in ihrer melodisch verständlichen und wohldurchdachten Vielstimmigkeit eher wie ein stiller Ruf zur Besinnung, der von sehr weit her zu kommen scheint.