Dass bildende Kunst Musik inspirieren kann, ist ein offenes Geheimnis. Bilder und Räume rufen Reaktionen hervor. Sie lösen im Inneren des Betrachters eine Resonanz aus.
Die Rothko-Kapelle: Feldmans Inspiration
Die natürliche Reaktion eines Komponisten besteht darin, solche Schwingungen in Musik zu verwandeln. Morton Feldman tat dies, als er eingeladen wurde, für die Rothko-Kapelle in Houston ein Werk zu komponieren, und ergriffen war von der Atmosphäre dieses Raums. Die “Rothko Chapel”, wie sie auf Englisch heißt, ist ein Ort der Stille, der Nachdenklichkeit und der Meditation. Sie wurde 1971 erbaut und steht allen Menschen offen, gleich welcher Konfession oder Weltanschauung.
Initiiert von den beiden Philanthropen Dominique und John de Ménil, wurde sie von den Architekten Philip Johnson, Howard Barnstone und Eugene Aubry ins Werk gesetzt. Das Besondere an dem Projekt: Der große abstrakte Expressionist Mark Rothko war von Anfang an in die Planung involviert, und viele seiner Bilder zieren die Wände der Kapelle. Als Morton Feldman sein Chorwerk “Rothko Chapel” (1971) schuf, da war er elektrisiert von der Wirkung des Raums und der Bilder.
“Rothko Chapel” (1971): Ein musikalisches Denkmal
Was ihn besonders faszinierte, das war, wie präzise Rothko seine Flächen genutzt hatte, auf denen er malte. So sollte auch die Musik klingen. “Ich wollte”, so Feldman, “den gleichen Effekt bei der Musik erzielen – sie sollte den ganzen Raum durchdringen.” Nicht zu viel und nicht zu wenig. Es ging darum, ein Maß zu finden und genauestens auszuloten, welcher akustischen Logik der Raum folgt, und Morton Feldman ging dem auf seine Weise nach: experimentell, tastend.
“Rothko Chapel”, mit dem das jetzt erschienene Sammelalbum “
Kim Kashkashian – Music for Rothko” einsetzt, klingt wie ein musikalischer Rundgang durch die Kapelle, wie ein sanftes Tasten nach der akustischen Logik des Raumes. Bestechend dabei: Der behutsame Monolog von Bratschistin
Kim Kashkashian, die bei dem Rundgang voranzuschreiten scheint. Begleitet wird sie wie in einer Prozession von
Sarah Rothenberg (Celesta),
Steven Schick (Percussion) und dem
Houston Chamber Choir unter der Leitung von
Robert Simpson.
Spirituelle Stille: John Cage und Erik Satie
Das klangliche Szenario ist in seiner Mischung aus Experimentalität und fester Gestalt überaus beeindruckend, und die auf “Rothko Chapel” folgenden Werke von John Cage und Erik Satie stehen der durchdringenden Intensität Feldmans in nichts nach. Doch wieso Cage und Satie? Die Antwort ist einfach: Cage war geprägt von Feldman, Feldman von Cage. Und Rothko? Der hielt große Stücke auf John Cage und Morton Feldman. So schließt sich der Kreis. Doch bei allen Verbindungen überzeugt das Album vor allem durch den klanglichen Reichtum.
Erik Saties transparente und träumerisch fließende Werke für Klavier solo, wie das berühmte “Gnossienne No. 4” (1891) oder “Ogive No. 2” (1886), treten in der Sammlung deutlich als Vorboten der Neuen Musik hervor. Pianistin Sarah Rothenberg interpretiert sie glasklar und mit nachdenklicher Haltung. John Cages Chorwerke “Four” (1990) und “Five” (1988) haben dagegen eine eher spirituelle Anmutung, und sein stilles Klavierstück “In a Landscape” (1948), mit dem das Album schließt, ist ein wundervoller Ausklang der gelungenen Sammlung.
Als i-Tüpfelchen dieser Veröffentlichung kann das ausgezeichnete Booklet gelten. Darin bekommt man Bilder Mark Rothkos zu sehen, Fotos von den lebhaften Aufnahmesessions und zur Lektüre einen glänzenden Essay aus der Feder Sarah Rothenbergs. Dass man durch ein Foto Hickey Robertsons auch noch einen Einblick ins Innere der Rothko Chapel erhascht, ist besonders erfreulich.