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Ein ideales Paar

20.11.2003
Mit dem zweiten Klavierkonzert von Johannes Brahms hatte sich Emil Gilels bereits Jahre zuvor für eine Aufnahme mit den Chicagoer Symphonikern unter der Leitung von Fritz Reuter beschäftigt. Das erste hingegen hob er sich für die Zusammenarbeit mit Eugen Jochum und den Berliner Philharmonikern auf, die den russischen Pianisten im Juni 1972 in die geteilte Stadt führte. Eine gute Entscheidung, denn die Kombination stellte sich als idealtypisch heraus, weil sich beide Künstler der Wirkung des monumentalen Werkes unterordneten.
Was auf den ersten Blick romantisch erscheint, ist der Ausdruck von Brahms' lebenslangem Ringen um die Kraft der Emotion. Der Musikwissenschaftler Rudolf Gerber charakterisierte in “Musik in Geschichte und Gegenwart” diesen Konflikt als grundlegendes Gegensatzpaar: “Zwei Wesenszüge bestimmen den allgemeinen Charakter der Brahms’schen Musik. Auf der einen Seite ist es eine ruhige Kraft, die nicht aggressiv voranstürmt, sondern eher bedächtig und beharrlich vordrängt, eine wuchtige Schwere, die in seinem vollgriffigen kompakten Klaviersatz (schon in seinem op.1) ebenso zu Ausdruck kommt, wie in den verhältnismäßig breiten Zeitmaßen seiner schnellen Sätze. Neben der Kraftfülle der Brahms’schen Diktion, die oft auch etwas Knorriges, Unwirsches haben kann, ist es eine eigentümliche Zartheit und sehnsüchtige Verträumtheit, die sich nicht in romantischem Phantasienflug aufschwingt in ein fernes Geisterreich, sondern sich etwas müde und resignierend, melancholisch durch Widerstände hindurchzwängt”. Dieses Nebeneinander von Emphase und Nachdenklichkeit wird besonders in seinem sich mühsam entrungenen “Klavierkonzert Nr.1, op. 15” deutlich. Entstanden 1858 über drei Stadien hinweg aus einer Sonate für zwei Klaviere und einem folgenden Symphonieentwurf fiel es in eine Phase emotionaler Extremsituationen, als Brahms seine Leidenschaft für die um ihren Mann trauernde Clara Schumann entdeckt hatte. Dagegen wirkt das 1881 komponierte “Klavierkonzert Nr.2, op. 83” wie ein symphonisches Stück mit prävalidiertem Klavier, hell und heiter, von den ersten romantischen Horntönen an, die den ersten Satz eröffnen.
 
Beide Konzerte in einer Aufnahmeserie zu archivieren, bedeutete daher besondere Vorbereitung. Der Tonmeister Klaus Scheibe erinnert sich noch deutlich daran: “Gilels nahm die Sitzungen sehr ernst und erwartete von uns absolut das Gleiche. Bei ihm musste der Klang während der Aufnahmen erarbeitet werden genau wie seine Interpretation. Einmal ließen wir ihn den Flügel in acht verschiedenen Positionen ausprobieren, bevor er überzeugt war, dass unsere ursprüngliche Aufstellung die beste war. […] Als Eugen Jochum ein Jahr vor seinem Tod in einem Interview nach den schönsten Aufnahmen seiner langen, glänzenden Karriere gefragt wurde, nannte er ausdrücklich die Brahms-Konzerte mit Gilels. Wenn man bedenkt, dass Jochum nur ‘begleitete’, kann man sich kaum eine schmeichelhaftere Form der Anerkennung für diese erfolgreiche Platte vorstellen”. Tatsächlich entwickelten sich die Sitzungen, die für die Referenz-Doppel-CD als Nachhall noch um die 1975 entstandenen “Solo-Fantasien Op.116” ergänzt wurden, zu einer der Gipfelpunkte beider Künstlerbiographien. Denn strenger, klarer und zugleich emphatischer kann Brahms kaum gespielt werden.
 
Die Referenz:
 
“Eine der schönsten romantischen Darstellungen. Hohe Bewertungen für Interpretation, Klangqualität, Sammelwert und Information.” (U.Kraemer in Audio 8/86)
 
Näheres zur Referenz-Reihe unter http://www.referenzaufnahmen.de

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