Das Interesse an seiner Kunst ist ungebrochen, und das dreißig Jahre nach seinem Tod. Emil Gilels ist und bleibt der pianistische Geheimtipp schlechthin.
Tiefe Empfindungen: Emil Gilels
Wer nach individuellem Ausdruck, musikalischen Überraschungen und tief empfundener Klangpoesie sucht, der ist bei Emil Gilels genau richtig. Kein anderer Pianist des 20. Jahrhunderts ist so unbeirrbar seinem persönlichen Stern gefolgt. Wenn es um eigensinnige Kunst ging, um Schliff und Eleganz, dann gab es für Gilels kein Wenn und Aber. Das Klavier war nicht dazu da, verstaubte Konventionen zu pflegen. Es wartete darauf, mit Leben gefüllt zu werden, und niemand verstand sich darauf so geschickt wie Emil Gilels.
Der 1916 in Odessa geborene Pianist, der bereits im Alter von 6 Jahren mit dem Klavierspiel begann und die Hürden der Technik schnell überwand, war ein Freund des intimen, konzentrierten Ausdrucks. Wenn er spielte, war sofort Ruhe im Saal. Gilels erzeugte eine Aufmerksamkeit, die magische Qualitäten besaß. Sein Anschlag war von solcher Genauigkeit und so tiefer Empfindung, dass sich daraus Klangschönheiten bildeten, denen sich kaum jemand zu entziehen vermochte.
Soghafte Wirkung: Der eigene Ton
Das Farbspektrum seiner Kunst war ungeheuerlich. Bei Gilels hörte man Dinge, von denen man zuvor nicht einmal etwas geahnt hätte. Er generierte immer wieder von neuem überraschende Klänge. Und einer war schöner als der andere. Es waren Perlen an einer scheinbar unendlich langen Kette. Dabei überraschte sich Gilels, der neben Svjatoslav Richter als einer der bedeutendsten sowjetischen Pianisten seiner Generation galt, auch gerne selbst. Er glaubte nicht, dass es die eine wahre Interpretation gibt.
Im Gegenteil: Die Werke von
Mozart,
Beethoven oder
Schubert waren ihm eine unversiegliche Quelle, die er immer wieder von neuem ausschöpfte. Doch so vielgestaltig die Interpretationen von Emil Gilels auch klangen, so schuf der leidenschaftliche Pianist doch gerade durch seine Offenheit und Originalität einen eigenen Ton, der unverkennbar blieb. Es war ein Fließen, ein sanftes Gleiten, und wer dem einmal nachgelauscht hat, der kommt davon nicht mehr los.
Edle Edition: Überwältigender Gesamteindruck
Umso erfreulicher ist es, dass jetzt im Vorausblick auf den 100. Geburtstag des Pianisten eine reife Jubiläumsedition erscheint, die den Künstler angemessen würdigt und einen hervorragenden Gesamteindruck seines Schaffens vermittelt. “Gilels – Complete Recordings on Deutsche Grammophon” umfasst 24 Tonträger und bündelt erstmals sämtliche Aufnahmen, die der Pianist für das Gelblabel tätigte. Zu der Sammlung gehören auch 7 CDs mit seltenen russischen Aufnahmen, die der Pianist zu Beginn seiner Karriere machte.
Hier hört man Gilels, der vor allem durch klassisches und romantisches Repertoire von sich reden machte, auch Rameau und Lully spielen. Die Spielfreude ist hinreißend und erschließt einem den Stil des Pianisten, den Joachim Kaiser in seinem Standardwerk “Große Pianisten unserer Zeit” zum “ersten Pianisten Russlands” erklärte, noch einmal ganz neu. Was dann auf den übrigen CDs zu hören ist, kann ohne Übertreibung Klassizität für sich beanspruchen.
Mit welcher Transparenz Gilels die Klaviersonaten von Beethoven spielt, wie empfindsam er in
Brahms,
Chopin, Schubert oder
Grieg eindringt und welche perlende Leichtigkeit er schließlich bei Mozart walten lässt, ist unbeschreiblich. Perfekt abgerundet wird die limitierte Edition durch ihre edle Gestaltung. Auf den CD-Hüllen prangen die Originalcover der Ersterscheinungen, und das 68-seitige Booklet vermittelt mit seltenen Fotos von Emil Gilels und einem Essay von Jeremy Siepmann lebhafte Eindrücke von einer großen Künstlerpersönlichkeit.