Vor zehn Jahren prophezeite der Schweizer Publizist Martin Meyer dem russischen Starpianisten Evgeny Kissin, dass es nurmehr eine Frage der Zeit sei, bis er “zu den Größten” seines Fachs zähle. Er müsse nur Kurs halten und sich „noch das Temperament geschärften Nachdenkens“ (NZZ) erwerben, dann sei es so weit. Diese Zeit scheint jetzt gekommen. Jedenfalls kann Kissins frenetisch umjubelter Auftritt bei den Salzburger Festspielen 2021 als schlagender Beweis dafür gelten, dass der Pianist auf dem Zenit seines Könnens steht. Sein emotionaler Tiefgang, seine unbestechliche Virtuosität und sein Gespür für überraschende Verbindungslinien der Musiktradition von der romantischen Epoche bis ins 20. Jahrhundert gerannen bei seinem Soloprogramm in Mozarts Geburtsstadt zu einem imposanten Gesamtkunstwerk. Kissin präsentierte im Großen Festspielhaus, das in einem günstigen Moment der Pandemie bis auf den letzten Platz besetzt war, ein ungewöhnlich breitgespanntes Programm.
Hoher Unterhaltungswert
Mit erlesenen Werken von Frédéric Chopin, Alban Berg, Tichon Chrennikov und George Gershwin tauchte er in scheinbar weit auseinanderliegende Klangwelten ein. Von Chopins kontrastreicher, zwischen verletzlicher Poesie und virtuosem style brillant wechselnder Kompositionskunst über Bergs asketisch reduzierte Formensprache bis hin zu Gershwins jazzigen Sounds ist es eine lange Strecke. Kissin erwanderte sie sich, als wäre es nichts. Mit höchster Konzentration, in sich versunken und zugleich fühlbar in Kontakt mit dem Publikum, absolvierte er einen fast zweistündigen Auftritt, der dank der abwechslungsreichen Literatur und der ansteckenden Leichtigkeit des Pianisten wie im Flug verging. Sein Live-Doppelalbum “The Salzburg Recital” kann deshalb als beredtes Zeugnis dafür gelten, dass der Pianist ein Publikum auf anspruchsvollste Weise zu unterhalten weiß.
Lust an der Verwandlung
Aus dem ersten Teil des Programms ragte Bergs Klaviersonate op. 1 als musikalischer Leuchtturm hervor. Kissin verlieh ihr eine meditative, fast träumerische Gestalt, die ihren leidenschaftlich drängenden Charakter sanft abfederte. Mit fesselnden Miniaturen aus dem Frühwerk von Tichon Chrennikov überraschte der Pianist das Publikum. Der Komponist, lange Jahre Generalsekretär des sowjetischen Komponistenverbandes gilt vielen als stalinistischer Hardliner, setzte sich jedoch auch für vom sowjetischen System unterdrückte Musiker ein. Die Modernität seines Frühwerks, die Kissin zum Vorschein brachte, erstaunt in jedem Fall. Den zweiten Teil des Programms bestritt der Pianist mit Werken von Chopin. Kissin ist voller Bewunderung für den polnischen Komponisten. Bei ihm kann er seine ganze poetische und virtuose Klasse ausspielen. Dass er sich im Laufe der Jahre Reife und ein “Temperament geschärften Nachdenkens” erworben hat, kristallisierte sich im Chopin-Teil überdeutlich heraus, vor allem in dem fiebrigen Scherzo Nr. 1 in h-Moll op. 20, das der heute 50-Jährige ebenso glühend wie souverän und überlegt darbot.
Für die Encores hatte sich Kissin einen originellen Zwölfton-Tango aus seiner eigenen Feder und ein großzügiges Set pianistischer Preziosen von Chopin, Mendelssohn und Debussy vorbehalten. Damit beendete er einen von vielen klanglichen Wandlungsprozessen geprägten, schillernden Klavierabend.