Beide hatten einander schon seit geraumer Zeit neugierig aus der Entfernung beäugt. Schließlich wagte sie den ersten Schritt und fragte ihn, ob er sie bei einer Albumproduktion als Gastsolist unterstützen würde. Die gleiche Frage hatte ihn schon länger umgetrieben. Warum dann nicht gleich aufs Ganze gehen und zusammen ein Album aufnehmen, dachten sich Alice Sara Ott und der Francesco Tristano, zwei der angesagtesten jungen Klavierstars.
Eine Woche vor Beginn der Aufnahmen im September 2013 reisten sie nach Schloss Elmau, um das Repertoire abzustimmen, zu proben und sich aufeinander einzuschwingen. Alice Sara Ott beschreibt die gemeinsame Zeit dort als von tiefer Sympathie und völlig gelöster Atmoshäre geprägt. Für das Programm ihres Albums war schnell ein gemeinsamen Nenner gefunden: Es sollte eine Stimmung von Aufbruch darin spürbar werden, eine unbefangene, durchaus auch provokative Haltung.
Der Geist von Diaghilev
Mit dem Albumtitel “Scandale” und seiner Werkauswahl erweist das Duo dem Impresario, Kurator, Kritiker und Gründer der legendären Tanzkompanie Ballets russes Serge Diaghilev (1872–1929) seine Referenz, einem geradezu idealtypischen Avantgardisten und kühnen Impulsgeber für die Künste seiner Zeit, allen voran das Ballett und die Musik. Sollte dessen skandalumwittertes Wirken je von einer Maxime geleitet gewesen sein, so könnte sie gelautet haben: “Im Tanz setzt der Mensch Energien von subversiver Kraft frei.”
Besonders folgenschwer für die Kunst des 20. Jahrhunderts war Diaghilevs kreative Partnerschaft mit Igor Strawinski. Jener komponierte für die Pariser Aufführungen der Ballets russes Auftragswerke wie das epochale “Le sacre du printemps” (1913), das vom Premierenpublikum entgeistert aufgenommen wurde und mit seiner neuartigen Verzahnung mit den Rhythmen des Körpers eine einschneidende Wirkung auf Musik und Tanz der Moderne hatte.
Funkensprühende tänzerische Energie
Alice Sara Ott und Francesco Tristano haben für “Scandale” Werke für Klavierduo eingespielt, die Diaghilevs unmittelbarem Wirkungskreis entstammen. Herzstück ist “Le sacre du printemps” in Strawinskis Fassung für zwei Klaviere. Außerdem erklingen die “Geschichte vom Prinzen Kalender” aus der Tondichtung “Scheherzade” von Rimsky-Korsakow, die 1910 in Paris von den Ballets russes in einer Ballettadaption vorgestellt wurde, und Ravels “La valse”, ein “choreographisches Gedicht für Orchester”, das im Auftrag Diaghilevs geschrieben, von jenem aber zurückgewiesen und nicht wie geplant als Ballett produziert wurde.
Das Duo nähert sich den Werken mit spielerischer Unbefangenheit. Seine Interpretationen vibrieren vor tänzerischer Energie. Tristano, der auch erfolgreich als DJ und Produzent von elektronischer Musik arbeitet, begreift Strawinskis “Le sacre” als Körpermusik, die in ihrer archaischen Kraft und Betonung des Motorischen durchaus Parallelen zum Techno aufweist. Er betont mit präzisem und kraftvollem Spiel den rhythmischen Drive der Werke, seine Partnerin geht darauf mit subtiler lyrischer Gestaltungskraft und erhabener Anschlagskultur ein. So entsteht ein packender Dialog über die Zeitlosigkeit klassischer Musik.
“Diese Musik ist heute nicht weniger relevant als Techno aus Detroit oder spanischer Underground”, glaubt Francesco Tristano. Alice Sara Ott ergänzt: “Mit diesen Stücken zeigen wir, dass klassische Musik nicht so konservativ ist, wie viele meinen”.
Meet the Musicians