Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Als der Westdeutsche Rundfunk am 15.Mai 1959 aus Anlass des 200.Todestages von Georg Friedrich Händel eine konzertante Aufführung der Oper “Alcina” veranstaltete, sah es für Außenstehende so aus, als wären Fritz Wunderlich und Joan Sutherland ein seit Jahren aufeinander eingestimmtes Solistenpaar. Was nur die wenigsten wussten: Beide hatte sich erst einige Tage zuvor bereit erklärt, stellvertretend für Kollegen die Rollen zu übernehmen. Umso erstaunlicher ist diese historische Aufnahme, die nun auf CD erscheint und ein nahezu ideales Zusammenspiel von Alcina und Ruggiero präsentiert.
Im Archiv des WDR gibt es eine bemerkenswerte Aktennotiz, angelegt um anno 1959 ein paar Budgetlücken durch ein Schreiben erklären und zu füllen. Darin heißt es: “Bei der ersten Solistenprobe am Samstag, 9.Mai, vormittags, stellte sich heraus, dass Herr Monti fälschlicherweise die Partie des Oronte studiert hatte, obwohl in den telefonischen Vorverhandlungen und bei der Übermittlung des Vertrags am 6.Februar ausdrücklich die Partie des Ruggiero für ihn genannt war. Ein Versuch, diese Partie mit ihm nachzustudieren, wurde schnell aufgegeben. … Glücklicherweise fand sich Herr Wunderlich bereit, kurzfristig die größere Partie des Ruggiero nachzustudieren, was bei seiner großen Musikalität auch bis zur Aufführung gelang. … Dolores Perez sang schon in der ersten Klavierprobe manche Stellen ihrer gut studierten Partie zu tief. Sie markierte außerdem in den Klavierproben weite Strecken der Partie, so daß ein endgültiges Urteil noch nicht abgegeben werden konnte. In den beiden ersten Orchesterproben mit der Sängerin am Sonntag, 10. und Montag, 11., was das Zutief-Singen aber so empfindlich, daß eine Besserung bis zur öffentlichen Aufführung nicht abzusehen und die vorgesehen Direktsendung nicht zu verantworten war … Glücklicherweise konnte die Aufführung dadurch gerettet werden, daß Joan Sutherland, London, die einzige Sängerin, die diese schwierige Partie früher einmal in englischer Sprache studiert hatte, kurzfristig gewonnen wurde und bis zum Aufführungstag den italienischen Text nachlernte”.
Mit anderen Worten: Diese “Alcina” war ein absoluter Glücksfall. Zwei Spitzenkünstler ihrer Zeit trafen sich vor den Mikrofonen und verbanden sich kraft ihrer unglaublichen Kompetenz und Musikalität zum Vorzeige-Team der Händel-Interpretation. Sie retteten nicht nur die Aufführung von 1959, sondern stellten sich gleichzeitig als potentielles Opernpaar der kommenden Jahre vor, wozu es wohlmöglich ohne den frühen Unfalltod Fritz Wunderlichs auch in extenso gekommen wäre. In Fall der WDR-Aufführung, die darüber hinaus die erste Gesamtaufnahme des 1735 uraufgeführten Werks überhaupt darstellte, hatten sie außerdem ein ausgezeichnetes Ensemble an ihrer Seite. Es spielte die Cappella Coloniensis, damals das erste Orchester, das konsequent den Maximen der historischen Aufführungspraxis folgte. Und am Pult stand Ferdinand Leitner, langjähriger Generalmusikdirektor Stuttgarts, ein Wagner-Spezialist, für den die Beschäftigung mit dem historisch klingenden Händel eine willkommene und kompetent umgesetzte Abwechslung seines Repertoires bedeutete. Alles zusammen ergab eine Aufnahme, deren Veröffentlichung schon lange anstand und die von nun an fest zu den Meilensteinen die Händel-Rezeption gezählt werden muss.