Lange Zeit stand er im Schatten seines avantgardistischen Zeitgenossen Dmitri Schostakowitsch, mit dem er gleichzeitig eng befreundet war. Seit einem knappen Jahrzehnt tritt sein gewaltiges Werk, das allein 21 vollendete Sinfonien umfasst, zunehmend aus dem Schatten seines großen Vorbilds heraus. Wegweisend für die Wiederentdeckung von Mieczysław Weinberg war die szenische Uraufführung seiner Oper “Die Passagierin” im Jahre 2010 bei den Bregenzer Festspielen. Die Geschichte einer Auschwitz-Überlebenden, die auf einem Ozeandampfer einer KZ-Aufseherin wiederbegegnet, berührt mehr als oberflächlich die Biographie Weinbergs, die untrennbar mit den Schrecken des NS-Regimes verbunden ist, so kam seine Familie im Warschauer Ghetto um.
Mit der bewegenden Musik des Komponisten waren bis dato fast ausschließlich Kenner und Liebhaber vertraut, die sich von Fehlurteilen über den eigenwilligen Tonschöpfer nicht irritieren ließen und an seiner hinreißenden Klangpoesie festhielten. “Dieser Mann”, so der lettische Stargeiger Gidon Kremer über den Komponisten, “war viele Jahre komplett unterschätzt, fast vergessen; ich selbst lebte mit dem Vorurteil, dass er nur ein zweitrangiger Schostakowitsch gewesen sei. Was für ein Fehler! Er hatte, ganz im Gegenteil, eine absolut eigenständige Stimme.”
Verdienste um Mieczysław Weinberg
In den letzten Jahren ist diese außergewöhnliche Stimmer immer lauter und hochfrequenter zu hören, und es war nicht zuletzt Gidon Kremer, der ihr in der jüngeren Vergangenheit zu Gehör verholfen hat. Kremer konnte bereits in den Jahren 2014 und 2017 mit zwei von der Kritik gefeierten Alben kammermusikalische Kostbarkeiten des vergessenen Komponisten bergen. Zu Beginn des laufenden Jahres 2019, das den 100. Geburtstag von Mieczysław Weinberg markiert, nahm er sich seiner 24 Präludien für Violoncello an, für die Aufnahmen von Geiger selbst für sein Instrument transkribiert. Zuletzt wirkte Kremer an einem gefeierten Album der litauischen Dirigentin
Mirga Gražinytė-Tyla mit, das im Mai bei der Deutschen Grammophon erschien und mit einer elektrisierenden Darbietung von Weinbergs Sinfonien Nr. 2 und Nr. 21 für Furore sorgte.
Poetische Kostbarkeiten
Auf seinem neuesten Album widmet sich Gidon Kremer nun wieder kleineren Formaten des Komponisten, darunter die sensationellen drei Stücke für Geige und Klavier, die Weinberg im Alter von 15 Jahren schuf, ohne zuvor je Kompositionsunterricht erhalten zu haben. Die Stücke zeugen von erstaunlicher Reife. Sie entfalten ein Stimmungsspektrum, das von zarten lyrischen Bewegungen über hinreißende Momente eines diskret schreitenden Tanzes bis hin zu heftiger nervöser Gespanntheit reicht. Gidon Kremer und die junge russische Klaviervirtuosin Yulianna Avdeeva geben sich mit Haut und Haaren der expressiven Fülle dieser Musik hin.
Beim Klaviertrio in a-Moll (op. 24) erfahren sie Verstärkung von der litauischen Cellistin Giedrė Dirvanauskaitė, die in das teils heftig pulsierende Werk sanfte Töne einzubringen versteht. Das Album schließt mit der farbenreichen Sonate für Geige und Klavier Nr. 6 (op. 136bis), die Gidon Kremer mit seiner ganzen poetischen und virtuosen Klasse zum Leuchten bringt.