Wenn Wolfgang Sandner richtig liegt, dann hat Gidon Kremer mit seinem neuen Album seine bislang intimste Aufnahme vorgelegt: “So persönlich, so existentiell fokussiert”, schreibt der Musikkritiker im Booklet zur jüngsten Veröffentlichung des lettisch-deutschen Geigers, “hat Gidon Kremer sich musikalisch vielleicht noch nie gezeigt.” Kremers eigene Reflexion auf sein neuestes Aufnahmeprojekt scheint Sandners Einschätzung zu bestätigen. Der große Geiger sieht sich zurzeit auf einer musikalischen Entdeckungsreise zu seinen jüdischen und baltischen Wurzeln.
Er habe in letzter Zeit oft an seinen jüdischen Vater denken müssen, so Gidon Kremer, der sein neues Album zentral durch solche Erinnerungen geprägt sieht. Sein Vater verlor während der Zeit des nationalsozialistischen Terrors im Ghetto von Riga 35 Familienmitglieder, darunter seine erste Frau und ihre anderthalbjährige Tochter. Das Schicksal von Markus Kremer, der sich aus dem Ghetto retten konnte, dort jedoch seine Familie zurückließ, prägte auch Gidon Kremer selbst, der mit den Schuldgefühlen und der emotionalen Unausgeglichenheit seines Vaters konfrontiert war.
Beheimatung in der Musik
"Über diese Konnotation des Jüdischen hinaus verorte ich meine Wurzeln unbestreitbar auch anderswo", so der Geiger, der den deutsch-schwedischen Hintergrund seiner Mutter und das Baltikum als wichtige Quellen seiner Herkunft benennt. Wenn er sein Album “Songs of Fate” nennt, dann geht es dabei auch um sein eigenes Schicksal, das er musikalisch auszudrücken sucht. Es ist das Geschick eines Heimatlosen bzw. vielfach Beheimateten, der sich in die Musik retten und dort Trost und Zuversicht finden konnte. Dabei kultivierte er einen ureigenen, lyrischen Ton, mit dem er ein breites Spektrum von Gefühlen auszudrücken verstand.
Die psychologische Ausdruckstiefe seines Spiels bewährt sich auch auf seinem neuen Album, wenn er zum Beispiel gemeinsam mit der litauischen Sopranistin Vida Miknevičiūtė und seinem Kammerensemble, der Kremerata Baltica, drei Lieder aus dem Zyklus “Jewish Songs” op. 13 (1943) von Mieczysław Weinberg interpretiert und von der hell getönten Zuversicht in “Viglid” (“Cradle Song”) über die tänzerische Melancholie in “Oyfn grinem bergele” (“On the Green Mountain”) bis zu dem in ungeahnte Tiefen hinabreichenden Beben in “Der yesoymes brivele” (“The Orfan’s Letter”) eine enorme Breite an Empfindungen in Klang verwandelt.
Poetische Nuancen
Elegische Töne von lyrischer Zartheit, denen zugleich etwas Filmisch-Episches anhaftet, sind in dem Opus “This too shall pass” (2021) der litauischen Komponistin Raminta Šerkšnytė (*1975) zu erleben. Kremer deklamiert das Stück ebenso behutsam tastend wie großzügig. Ein Höchstmaß an Offenheit repräsentiert “Lignum” (2017) aus der Feder des jungen lettischen Komponisten Jēkabs Jančevskis (*1992). An dem Werk imponiert, wie es sich von scheuen Tönen über sirenenhaft mahnende Klänge in hellere Zonen vorarbeitet.
Als Highlight des baltischen Repertoires kann das Lied “Postlude. The Luminous Lament” (2018) aus der Kammersinfonie “The Star of David” von Giedrius Kuprevičius (*1944) gelten. Der inbrünstig klagende Gesang von Vida Miknevičiūtė schwingt sich hier in kongenialer Weise in den wie eine Improvisation wirkenden Geigenmonolog von Gidon Kremer ein.